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Franz Jägerstätter - "Dieser Zug fährt in die Hölle" - Herausforderungen für das Humanum heute
(Festvortrag bei der "Gedenkfeier zum 62. Jahrestag des Todes von Franz Jägerstätter am 9. August 2005 in Ostermiething und St. Radegund")

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategoriekommentar
Abstrakt:
Publiziert in:Pfarrkirche in Ostermiething am 9. August 2005
Datum:2005-08-16

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Es war eine jener Nächte, in der man schlecht schläft. Januar 1938. Franz Jägerstätter schläft endlich ein und fängt an zu träumen. Er träumt von einem schönen Eisenbahnzug, der um einen Berg fährt. Die Fahrt scheint im Trend der Zeit zu liegen. Keiner will sich die Reise entgehen lassen. Erwachsene und Kinder drängen sich bei den Eingängen. Und wohin fährt der Zug? Erschrocken nimmt der Träumer eine Stimme wahr: “Dieser Zug fährt in die Hölle”. Gleich wird er bei der Hand genommen und weggeführt. Nicht zum Zug hin. Nein! Er darf das Fegfeuer schauen und das entsetzliche Leid spüren. Und er denkt sich ... “Jetzt sind wir in der Hölle gelandet” Doch der Traum war weg (Vgl. Erna Putz, Franz Jägerstätter: "... besser die Hände als der Wille gefesselt. ...". Linz, 1985, 83).

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Der Traum war weg, nicht aber die Fragen. Die Fragen, die er sich gestellt hat und die Fragen, die wir uns stellen. Wir: die Menschen, die 60 Jahre nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes am Todestag von Franz Jägerstätter sich Gedanken über den Wert seines Glaubenszeugnisses machen, für diesen Wert auch Gott ausdrücklich danken und sich so - über den Umweg des Dankes an Gott - auch der Herausforderung seines Zeugnisses stellen. Was sind also die Fragen, die wir uns stellen?

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Frage Nr. 1: Wenn der Zug in die Hölle fährt, warum wollen dann alle mit? Doch nicht deswegen, weil sie schon jener Generation angehören, für die der Begriff Hölle nur noch einen Unterhaltungswert hat. Und auch nicht deswegen, weil sie über das Ziel der Reise nicht aufgeklärt sind und zu wenig darüber wissen, was da politisch los ist. Vielleicht sind sie zutiefst fasziniert von diesem Zug ..., und von der Eigengesetzlichkeit der Reise. Fragen wir uns ehrlich, ob uns folgende Logik gänzlich unbekannt ist: “Wenn schon so viele mitfahren, müßte nicht auch ich mich anschließen?” Muss man in der Welt nicht den Schritt mithalten, mit dem Strom schwimmen, den Trend der Zeit erkennen, Kapitalströme studieren, Statistiken in Auftrag geben, auf Einschaltquoten achten? Sonst ist man out, Außenseiter, fremd, ein Mensch minderer Qualität ..., wer weiß: vielleicht irgendwann auch kein Mensch mehr! Der Zug, auf den alle aufspringen wollen, stellt nämlich nicht etwas Einmaliges dar. Es ist eine kulturelle Konstante. In unserer Wahrnehmung des gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und religiösen Lebens geht es ja immer ähnlich zu. “Wenn schon nicht die Platzkarte in der Luxusklasse, so doch zumindest ein Stehplatz auf dem Gang! Hauptsache man ist dabei.” Dabei sein: das bürgt für die Qualität des Lebens. Dazu zu gehören, dasselbe zu tun, was die anderen tun, dasselbe zu haben, was die anderen haben, von denselben Wünschen und Hoffnungen getrieben zu sein: all diese Aspekte stellen nicht etwas dar, was erst unsere “Seitenblickegesellschaft” erfunden hat. Nein! All diese Faktoren gehören zu fundamentalen Bedingungen für die Entwicklung des Humanum, unterscheidet sich doch der Mensch vom Tier gerade dadurch, dass er die Fähigkeit zur Nachahmung hat. Sein Streben, sein Begehren ist nicht instinktgebunden. Es ist ausgerichtet auf das Begehren des Anderen. Paradoxerweise könnte man sagen, er wird zum Mensch durch den Vergleich mit dem anderen und den Wunsch, dem anderen ähnlich zu werden: “ich will so sein, wie du; ich will dasselbe haben, wie du; ich will dasselbe sein ..., gar an deine Stelle treten!”Die Tatsache, dass andere dies auch wollen, erhöht nicht nur den Wert dessen, was mir selber als begehrenswert erscheint, so ganz nach dem Motto: Je mehr Menschen auf den Zug aufspringen, umso wertvoller scheint die Fahrt und auch das Ziel zu sein. Diese Tatsache bringt auch Rivalität und diffuse Aggressivität mit sich.

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Sind aber deswegen schon die vollgestopften Züge prinzipiell unter Verdacht zu stellen, den Verdacht des Populismus etwa? Die Mütter und die Väter der Postmoderne glaubten dies, wollten die Totalitarismusgefahr dadurch entkräften, dass sie die Zahl der Züge und die Richtungen multiplizierten. Die Unüberschaubarkeit, der Pluralismus sollte automatisch - ohne die Anstrengung und ethische Transformation des Menschen - die drohende Hölle verhindert. Faktisch vermochte die kulturelle Revolution der Postmoderne an der Tatsache der Rivalität und der Gewalt nicht das Geringste zu ändern. Weiterhin finden die Menschen zusammen und weiterhin werden sie auseinander dividiert durch ein und dieselbe Fähigkeit: die Fähigkeit zur besitzergreifenden Nachahmung. Die im Streit miteinander liegenden Parteien werden auch weiterhin durch dieselbe Fähigkeit miteinander versöhnt: durch die mechanische Ableitung von Aggressionen auf eine Dritten: auf den Sündenbock. Weil das menschliche Begehren grenzenlos ist - es ist eine “profundior et universalior appetitio” -, wird sich der Mensch weiterhin niemals zufriedengeben, mit dem, was er hat, mit dem, was er ist. Das ist sein Qualitätsausweis. Ein Qualitätsausweis, den die Theologen in Verbindung bringen mit Gott: “unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir” (Augustinus); “desiderium naturale in Visionem Dei” (Thomas); “profundior et universalior appetitio” (Vaticanum II: Gaudium et spes). Und die Theologen gaben auch immer zu bedenken: Verfehlt dieses Begehren sein “unendliches Ziel”, so verfängt es sich in der Anbetung der Götzen, es kann auch sich in sich selbst verkrümmen (homo incurvatus in se ipsum). Aufgrund der Grenzenlosigkeit des Begehrens wird auch dieser destruktive Zug zur Grenzenlosigkeit tendieren.

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Aufgrund der profundior et universalior appetitio werden also ständig heutzutage neue Züge bestiegen, eine Mode löst die andere ab, ein Trend folgt dem anderen. Diejenige, die im Trend liegen und den Schritt mithalten, sie haben Definitionsmacht über das, was ist, und das, was gilt, über das, was gut ist und scheinbar auch zukunftsträchtig. So war es gestern, so ist es heute, so wird es auch morgen sein: solange ... solange es Menschen gibt. Selbst die Nonkonformisten definieren sich von der Norm her und über die Norm wird auf jenen Zügen entschieden, auf denen möglichst viele Wähler unterwegs sind. Eine Banalität des Alltags oder ein Teufelskreis? Das ist die Frage. Auf jeden Fall scheint der Aufbau und die Zerstörung von Kulturen oft das Ergebnis von ein und demselben Mechanismus zu sein; auch die politischen und ethischen Entscheidungen über die Standards des Humanum sind von den Sündenbockstrukturen nicht frei. Schon deswegen bleibt die Aufgabe der Kultivierung des menschlichen Begehrens und die Entwicklung der Sensibilität für die Opfer der kulturellen Prozesse eine niemals abgeschlossene Aufgabe für die Menschheit. Wird sie vernachlässigt, so fährt derselbe Zug, der zum “Aufbau des Humanum” aufgeboten wurde, automatisch “in die Hölle”. Der Zug im Traum von Franz Jägerstätter fährt jedenfalls dorthin.

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Und das ist unsere zweite Frage: Wieso fährt dieser Zug, auf den so viele Menschen aufspringen, in die Hölle? Was soll die Metapher überhaupt bedeuten? Sagt sie mehr aus, als die pauschalen - meistens stark moralisierenden - Verurteilungen populärer kultureller und politischer Entwicklungen in der Gegenwart? Jene Verurteilungen, die v.a. von den Nonkonformisten geäußert werden, die aus diesen oder jenen Gründen mit der Entwicklung nicht zufrieden sind? Etwa nach folgenden Muster: Millionen von Menschen träumen davon auf den EU-Zug aufzuspringen; Millionen anderer sind davon überzeugt, dass der EU-Zug - wenn schon nicht die Hölle, so doch - im Desaster enden wird. Oder: Wie viele Menschen träumen davon endlich im “Konsumzug” westlicher Prägung sitzen zu dürfen, weil sie sich den Inbegriff des Humanum auf diese Art vorstellen: “Lass uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!”? Wie viele sind aber von dieser Kultur enttäuscht, wie viele sehen darin den Inbegriff des Untergangs nicht nur des Abendlandes. Nein! Der Spezies Mensch. Reduziert auf Konsumgewohnheiten, durch schmerzstillende Drogen und eine breit entwickelte Opiatenkultur betäubt, werde sich der Mensch durch die Konsumkultur zu einem “fündigen Tier” entwickeln!

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Will die Stimme in Jägerstätters Traum uns nichts mehr sagen und auch nichts mehr bewirken als dies: zur Vermehrung solcher kulturkritischen Urteile beitragen - Urteile, die meist ohne Konsequenzen bleiben? Das glaube ich nicht. Auf den Betroffenen selbst scheint diese Stimme und der Traum doch einen entscheidenden Einfluss gehabt zu haben und auf seine Entscheidung, deren Konsequenzen letztendlich im gewaltsamen Tod des Mannes und einer langen Passionsgeschichte seiner Familie münden.

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“Da haben wir es!” - werden die Religionskritiker und Kirchenfresser schreien. Der Traum sei doch einer menschenfeindlichen Logik entsprungen! Einer Logik, die mit den rationalen Standards zur Definierung dessen, was “Humanun” heute sei, schwer vereinbar ist. Träumen etwa die Selbstmordattentäter nicht ähnliche Träume? Hat sich der Zug der westlichen Kultur in ihrer Wahrnehmung nicht zu jenem Zug verwandelt, auf den möglichst viele aufspringen wollen: Erwachsene und Kinder, Christen, Moslems und Hindus, Agnostiker und Atheisten. Es sei ein multikultureller Zug, ein multireligiöses Monster, mit der Lokomotive des amerikanischen Imperialismus. Ein Zug, der gemäß ihrer subjektiven Wahrnehmung - doch klar zur Verdammnis führt: für die Betroffene und für die ganze Welt! Und weil sie auf diese Weise träumen, steigen sie in den Zug hinein, sprengen dessen Repräsentationen - man möchte fast sagen, dessen Realsymbole - in die Luft, befördern die Insassen sofort zur Hölle und katapultieren sich selber in den Himmel. “Wo liegt da schon der Unterschied?”

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Diese Frage wird vermutlich kaum jemand unter ihnen so stellen, doch gibt es viele Zeitgenossen, die zuerst nur diese klare Parallelen sehen und auch nur diese zu sehen gewillt sind. Sie fokussieren ihre Aufmerksamkeit auf den religiösen Hintergrund der Träume und Visionen, beschweren die Gefahr des religiösen Fundamentalismus und sehen darin den wichtigsten Feind des Humanum heute: Der religiöse Eiferer als Menschenfeind par excellence! Wir sollen uns nicht täuschen - meine Damen und Herren! All jene Zeitgenossen, die so oder ähnlich denken, haben längst jenen Zug bestiegen, auf den zumindest in unseren Breitegraden die Mehrheit der Bevölkerung aufgesprungen ist: den Zug einer harmlosen, “menschenfreundlichen” Religion. Jener Religion, die im allgegenwärtigen Supermarkt auf die Regale der Abteilung der nicht notwendigen Lebenshilfen verbannt worden ist, hinter den Sportartikeln. Einer Religion, in der Gottes Reden und Wirken nur noch auf derselben Ebene angesiedelt bleiben, wie der Glaube an die Bedeutung von Wellnessbäder und Vitaminpräparaten, so ganz nach dem Motto: “Der eine schöpft seine Kraft aus dem Wort Gottes, der andere aus einem Wellnesswochenende. Wo liegt da schon der Unterschied? Wenn es einem Menschen hilft, ausgeglichen zu bleiben?” All die Reisenden in diesem Zug aus der religiösen Gegenwart werden den Traum Jägerstätters als eine gefährliche Angelegenheit ansehen und mehr Analogien zur gewaltverhafteten Religiosität der Terroristen erblicken als Unterschiede. Und fragen wir uns selber: Wie viele Gläubige, die Jägerstätter als große Figur der Verweigerung schätzen, übergehen genau aus diesen Gründen mit peinlichem Schweigen die Tatsache, das sich dieser auf Marienerscheinungen genauso berufen konnte, wie auf seine Erfahrung des Fegefeuers. “Das klingt doch zu stark nach fundamentalistischen Untertönen!” Zu stark sind in uns allen die kulturellen Vorurteile verfestigt, dass Religiosität - zumal eine allzu starke Religiosität - die Infragestellung des Humanum bedeute. Hier ist eine Trendumkehr nötig.

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Wir sind immer noch bei der zweiten Frage, was es zu bedeuten habe, dass der Zug auf den so viele aufspringen wollen, doch in die Hölle fährt. Um die Antwort zu geben, fragen wir uns, wie der Träumer selber seinen Traum deutete. “Anfangs war mir dieser fahrender Zug ziemlich rätselhaft, aber je länger die ganze Sache ist, desto entschleierter wird mir auch dieser fahrende Zug. Und mir kommt es heute vor, als stellte dieses Bild nichts anderes dar als den damals hereinbrechenden oder schleichenden Nationalsozialismus mit all seinen verschiedenartigen Gliederungen.” (Putz 83). Nationalsozialismus war für Jägerstätter weit mehr als nur ein Platzhalter für eine beliebige totalitäre Kultur. Insofern ist der Zug aus seinem Traum und dessen Fahrt in die Hölle zuerst nicht etwas, was sofort zur Deutung anderer kultureller und politischer Entwicklungen verwendet werden kann. Sofortige Anwendung auf die Probleme der Europäischen Integration, oder aber der Eigengesetzlichkeit der Konsumkultur werden der Radikalität des Traums also nicht gerecht. Gott habe ihm durch diesen Traum eine eindeutige Alternative vorgelegt: Er habe ihm “klar genug gezeigt und ihm ins Herz gelegt” sich zu entscheiden: “ob er Nationalsozialist oder Katholik” sei (Franz Jägerstätter: Gefängnisbriefe und Aufzeichnungen. Hg. von Erna Putz. Linz 1987, 38f.).

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Worin sollen wir nun den entscheidenden Aspekt in dieser sich selbst beantwortenden Frage erblicken? In der Tatsache, dass Jägerstätter zum Feind der Nazis wird, oder im Faktum, das er den Nationalsozialismus als das exakte Gegenmodell einer Weltanschauung erkennt, ihn gar als eine Gegenreligion wahrnimmt, die seiner eigenen Religion widerspricht und diese Erkenntnis nun fortlaufend auf religiöser Ebene zu vertiefen sucht, damit auch zu einer klaren Handlungslogik findet? Entgegen dem Trend solche Prozesse in weitgehend säkularer Begrifflichkeit zu interpretieren - einem Trend, der den fundamentalistischen Konnotationen zu entgehen sucht - möchte ich nun gerade aufgrund der stärker werdenden religiösen Phänomene in unserer Gesellschaft mich ausdrücklich auf die religiöse Dimension der Problematik konzentrieren und das ganze Problem einer von den Massen unterstützten Kultur, die aber doch der satanischen Logik verpflichtet bleibt, theologisch angehen.

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Wie viele Fragen mußte sich Franz Jägerstätter selber aufgrund dieser klaren Entscheidung stellen? Das wird man kaum beantworten können. Einerseits glaubte er ja, dass Gott den Menschen nicht nach seiner Zugehörigkeit zu einer Religion richten wird, sondern nach dem, was er getan hat. Anderseits war ihm die Alternative klar: Katholisch oder nationalsozialistisch. Und zum dritten: Tagtäglich war er doch mit Menschen konfrontiert, die obwohl katholisch, auf diese oder jene Art und Weise im Zug sassen, vielleicht nicht auf den Luxusplätzen, doch auch nicht nur auf dem Dach. Sie fuhren also mit, waren unterwegs auf dem Weg in die Hölle. Musste diese Erkenntnis nicht eine unerträgliche Spannung in ihm bewirken? Wir wissen nicht, wie er mit dieser Spannung gerungen hat. Eines wissen wir auf jeden Fall, und zwar das, was er nicht gemacht hat.

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Er hat niemals mit Steinen geworfen, konkrete Menschen beschuldigt, angeklagt oder verurteilt. Ein Mensch, der den Kriegsdienst verweigert, weil er sich nicht “als Werkzeug der schlimmsten und gefährlichsten antichristlichen Macht” zur Verfügung stellen will, dieser Mensch, der selber durch ein ordnungsgemäßes Verfahren vom Gericht verurteilt wurde, hütet sich davor, selber auf andere Steine zu werfen. Diese simple Erkenntnis stellt alles andere dar als bloß eine fromme Glosse für eine “Sonntagspredigt”. Der tiefe Gehalt des Zusammenhangs erschließt sich, wenn man bedenkt, dass die Figur des Satans nichts anderes darstellt als die gestaltgewordene Anschuldigung und Anklage, ein falsches Urteil in Person - wenn Sie so wollen. Der satanische Geist raubt den Menschen die Unschuld und sorgt für scheinbar klare Verhältnisse. Mit seiner Hilfe werden Vorurteile zu Urteilen, die “Bösen” werden geoutet und Menschen sauber eingeteilt in (scheinbar) “gute und böse”. Mit einem Wort: die satanische Strategie stellt nichts anderes dar als den Inbegriff der einseitigen Schuldzuweisung, der Sündenbockjagd, der Skandalisierung, heute würden wir sagen: des Outings.

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Sieht man die ganze Sache im Lichte dieser Hermeneutik, so wird man sich kaum einer Erkenntnis verschließen können: Der nationalsozialistische Zug fährt zuerst deswegen in die Hölle, weil er vom satanischen Geist geführt wird. Mehr noch: der satanische Geist bietet sich der menschlichen profundior et universalior appetitio, die auf diesen Zug aufspringt, als das einzige eindeutige Modell für das mimetische Begeheren dar: “ich will so sein wie er; ich will dasselbe tun ...” Und was? Schnüffeln, Gerüchte streuen, Menschen miesmachen, stigmatisieren, sie zu Außenseitern stempeln, verfolgen und vernichten. Und sich dabei als wertvoll erleben, als neuer Mensch. Auf Kosten der anderen. Diese anderen werden dämonisiert, sie werden zum Inbegriff des Bösen, so als ob sich in ihnen die Hölle selbst verdichten würde. Interessanterweise erlag der existentialistische Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre dieser Versuchung, als er eindrucksvoll formuliere: “Die Hölle: das sind die Anderen!”

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Nationalsozialismus als politisches Programm lässt sich zuerst reduzieren auf den gewaltigen Sündenbockmechanismus zur “Etablierung des Humanum”. Für dieses Humanum zahlten aber unzählige Außenseiter den Preis: Behinderte, Zigeuner, Schwule und viele andere mehr. Die Sündenbockproduktion ist dabei nicht identisch mit jenen Mechanismen, die wir vom Alltag kennen. Wenn etwa Menschen quasi spontan zu Sündenböcken gemacht werden. Der Zug hier ist ein Programm. “Politik” ist hier identisch mit der Opferproduktion. So etwas mag zwar in der Geschichte schon vorgekommen sein, doch eine klare und bewusste Entscheidung für das Opferprinzip als Strukturprinzip der Politik, ein systembildender Rückgriff auf die Sündenbocklogik unter den technischen Bedingungen der Moderne, stellt ein ideologisches Novum dar.

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Und eine letzte Frage ist noch zu klären. Warum wird der Zug von Jägerstätter als die schlimmste und gefährlichste antichristliche Macht qualifiziert? Diese Frage müssen v.a. wir uns selber heute stellen. Menschen, die vielleicht noch nicht ganz auf die begehrten Züge der banalisierten Religion aufgesprungen sind, die aber von dem Trend zur Dämonisierung und Banalisierung der traditionellen Religion nicht ganz frei sind. Und dies schon deswegen, weil wir ständig mit einem Gegenwind zu kämpfen haben. Mit welchen ironischen Fragen werden wir da tagtäglich konfrontiert? “Warum regen sich die Christen über die Opferproduktion der Nationalsozialisten auf? Ist das Christentum nicht selbst ein opferproduzierendes System? Hat es nicht Hexenverfolgung, Kreuzzüge und Religionskriege gegeben? Mag das Christentum sich heute im großen und ganzen friedlich zeigen, ein Seitenblick auf den verwandten Islam genügt: Allzu weit ist der Weg zu heutigen islamischen Terroristen nicht: Im Namen Gottes werden Opfer produziert, gar durch Selbstopfer besiegelt!”Wir kennen diese Logik zu genüge. Immer und immer wieder gehen Beststeller dieser Art über die Ladentische und laufen Aufklärungsbeiträge derselben Couleur in den Fernsehprogrammen. Und dies aus einem einfachen Grund: Allzu viele schöne neuheidnische Züge sind schon unterwegs, Züge, auf die alle aufspringen wollen: Erwachsene und Kinder. Abschied vom Christentum im Besonderen und Abschied vom Monotheismus in Allgemeinen und Rückkehr zu einer fröhlichen neuheidnischen Gegenwart mit oder auch ohne die neuheidnischen Götter als ein Schritt in das neue Zeitalter des Humanum! So lautet doch das kulturpolitische Programm des Boulevards im Jahre 2005 und die intellektuelle Szene sieht die Sache auch nicht anders.

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Immer und immer wieder wird Friedrich Nietzsche als geistiger Führer für die Wende zitiert. Er wollte ja nur den Dionysos, das Leben selbst, die ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr kennen und den Gekreuzigten als Einwand gegen das Leben verabschieden, genauso wie er das Judentum mit seinen prophetischen Sklavenmoralressentiments ad acta legen wollte. Nietzsche ist faktisch auch der beste Wegweiser auf der Suche nach der Antwort für unsere letzte Frage: warum stufte Jägerstätter den Nationalsozialismus als den schlimmsten Feind ein? “Der Einzelne wurde durch das Christentum so wichtig genommen, so absolut gesetzt, dass man ihn nicht mehr opfern konnte. Aber die Gattung bestehe nur durch Menschenopfer. ... Und diese Pseudohumanität, die Christentum heißt, will gerade durchsetzen, dass Niemand geopfert wird. (F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Frühjahr 1888, 15 (110)). Wie kaum ein anderer Denker der Moderne hat Nietzsche erkannt, worin die absolut revolutionäre Kraft der jüdisch-christlichen Offenbarung liegt. Und worin liegt sie? In der Entdeckung der Würde des Opfers, des Außenseiters, dessen, den man bis dahin problemlos zum Sündenbock machen konnte. Konkret gesprochen: in der Entdeckung der Würde des Behinderten, des Zigeuners, des Schwulen und vieler anderer mehr. “Ecce homo!” - das gilt nicht dem “neuen - starken - Menschen”; vielmehr gilt dies einer geschundenen Kreatur: dem Gekreuzigten, genauso wie es auch dem verfolgten und missgebildeten Leidensknecht gilt und all jenen, denen Leid zugefügt wird. Unabhängig von ihrer ethnischen, kulturellen, religiösen Herkunft. “Alles, was ihr dem Geringsten getan habt ...” Diesen selbstverständlichsten Sachverhalt haben wir bei der Frage nach dem Wert der Offenbarung in letzter Zeit aus den Augen verloren und stimmen ein in die christentumskritische Refrains der neuheidnischen Melodienführer.

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Was diese kulturelle Gegenwart gerne übersieht ist dies: die archaischen Kulturen kannten das Mitleid zwar auch. Doch wurde dieses ausschließlich innerhalb begrenzter Gruppen geübt. Der Außenseiter existierte als Mensch nicht! Das Humanum, das durch die jüdische Offenbarung in die Geschichte der Menschheit eingebrochen ist, definiert sich aber nicht durch die Ausgrenzung der Schwachen und Außenseiter. Zugespitzt könnte man formulieren: Der Außenseiter als Mensch: das ist das kulturelle Produkt der Offenbarung. Weil Gott selber sich zuwendet: dem geschundenen Volk, dem verfolgten Beter der Psalmen, dem stummen Opfer, dessen Kehle so ausgetrocknet ist, dass das Opfer nicht einmal klagen kann, wird dieses Opfer in seinen menschlichen Konturen auf der Bühne der Weltgeschichte zum ersten Mal sichtbar! Von dieser ersten religiösen Erfahrung bis zur Deklaration der universalen Menschenrechte ist es zwar ein weiter Weg. Ein Weg ist es trotzdem und zwar ein eindeutiger!

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Wie gesagt: als einer der wenigen modernen Denker hat Nietzsche diesen Weg gesehen, ihn auch schärfstens diffamiert. Die Nazis machten aus seiner Erkenntnis ein politisches Rezept. Der kulturelle Impuls der Sorge um das Opfer, die Bemühung um das Humanum hinter der Maske des Opfers und hinter der Maske des Außenseiters sollten unter Leichenbergen begraben werden. Hitlers systematische Vernichtung des jüdischen Volkes stellt deshalb nicht eine Ausweitung von Verfolgung der Außenseiter auf eine noch zusätzliche Gruppe dar. Nein! Mit der Vernichtung des Judentums sollte jene Logik vernichtet werden, die durch die biblische Offenbarung in die Welt gekommen ist: der Weg zum Humanum über den Umweg der Frage nach der Würde der Opfer. Nach den Juden sollte auch jenes Christentum, das sich dieser Logik verpflichtet weiß, ausradiert werden zugunsten eines neuheidnischen Christentums.

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Jägerstätter erblickte im Nationalsozialismus die schlimmste antichristliche Macht, weil diese dieses Humanum, für das der jüdisch-christliche Gott verantwortlich zeichnet vernichten wollte. Man begreift nämlich den Nationalsozialismus erst dann in seiner satanischen Tiefe, wenn man in ihm den Angriff auf jenen wahren Gott sieht, der sich zum Anwalt der Opfer in der Geschichte macht, einen Gott, der den Lauf der satanischen Versuchung zur Diffamierung, Ausgrenzung, Vernichtung von Opfern und zur Etablierung von Ordnung auf deren Kosten durch seine zuvorkommende Güte, zuvorkommende Verzeihung zu unterbrechen sucht, selber aber in den unzähligen Opfern der Geschichte dem Mechanismus doch zum Opfer fällt. Dieses göttliche Wirken verbürgen nicht nur Ijob, die Beter der Psalmen, der Leidensknecht und viele andere biblische Gestalten. Dieses Wirken verdichtet sich in Christus selber. Und Franz Jägerstätter steht in dessen Nachfolge.

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So paradox es klingen mag: Mit ihrem Zeugnis, dem Zeugnis eines gewaltfreien Martyriums, dem Zeugnis des gewaltfreien Todes ohne Anschuldigung und Verurteilung der Täter (“Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun”) unterbrechen die Märtyrer auf radikalste Art und Weise die Höllenfahrt unseres Zuges. “Die Hölle: das sind die anderen”, dichtet immer wieder auf verführerische Art und Weise der satanische Geist selber, weil er den Teufelskreis der einseitigen Anschuldigung ständig belebt und dadurch erst recht die Hölle unter Menschen schafft. Indem sich Menschen gegenseitig verdammen, isolieren sie sich voneinander, und verfallen der Kommunikationslosigkeit. “Jeder glaubt sich alleine in der Hölle und genau das ist die Hölle” (René Girard) Mit ihrem Zeugnis des gewaltfreien Martyriums sprengen die zum Sündenbock gemachten Opfer - wie Franz Jägerstätter - die Grenzen solcher Höllen, weil sie sich der satanischen Logik der Anschuldigung und der Sündenbockjagd verweigern. Im Unterschied dazu zementieren die Selbstmordattentäter die satanische Logik und machen die Hölle nach und nach zur alltäglichen Wirklichkeit. Der Vergleich beider Haltungen macht deutlich: Jägerstätter wurde von Gott die Gnade zur Erkenntnis der Hintergründe des Regimes der Nationalsozialisten und die Gnade zur Unterscheidung der religiösen Geister’ gegeben und er handelte gewaltfrei.

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Der Untertitelt meines Vortrags legt den Schwerpunkt auf “heute”: “Herausforderungen für das Humanum heute”. Worüber habe ich gesprochen. Obwohl ich sehr viel über Satan und die Hölle sprach, habe ich eigenlicht nur über das Handeln von Menschen gesprochen und auch das rettende Handeln Gottes nicht unerwähnt gelassen. Vermutlich sind viele von Ihnen in ihrer Erwartungshaltung enttäuscht. Vermutlich haben sich einige von Ihnen einen klaren, erhobenen Zeigefinger erwartet, der auf konkrete Entwicklungen, vor allem aber Menschen (v.a. Politiker) gerichtet ist, die das Humanum heute bedrohen. Ich habe so etwas nicht getan. Im Lichte der Logik, die ich Ihnen präsentiert habe, würde das nämlich bedeuten, dass man selber stückweise dem satanischen Treiben erliegt und sich an der kulturell so modischen Sündenbockproduktion beteiligt. Unsere Zeit hat nämlich wie kaum eine andere Kultur das mimetische Begehren entfesselt, deswegen auch zur Steigerung von Rivalität, Neid und diffusen Aggressionen auf eine bisher kaum gekannte Weise beigetragen. P. Sloterdijk spricht sogar von unserer Kultur als dem “Neidkraftwerk” und sieht in der Eingrenzung des entfesselten mimetischen Begehrens eine der entscheidenden Herausforderungen für das 21. Jahrhundert. Er trifft sich in diesem Anliegen mit René Girard, der die Entfesselung des mimetischen Begehrens auf planetarischer Ebene konstatiert und von der radikalen kulturellen Neubesinnung auf die jüdisch-christliche Tradition auch das Überleben des Planeten abhängig macht. Das Alltagsrezept unserer Gegenwart sieht nicht gerade ermutigend aus: Entfesselung des Begehrens, Steigerung der Rivalität und Entladung der Aggressionen auf Dritte. Der Bedarf nach Sündenbocken steigt in unserer Gegenwart unaufhörlich. Die Sorge um die Opfer geht Hand in Hand mit der Opferproduktion und der Verschleierung des Opferszenarios. Die neuheidnische Logik wird so zur Tagesmode, die jüdisch-christliche Tradition zu einem der zentralen Sündenböcke der Alltagskultur. Mehr denn je ist heute die Trendumkehr notwendig. Sonst wird der kulturelle Zug - so apokalyptisch nun die These auch klingen mag - geradeaus “in die Hölle” fahren.

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Franz Jägerstätter macht auf die christliche Alternative aufmerksam. Sie fängt an bei der Kultivierung des Begehrens, packt also das Problem an der Wurzel an. Sie verweigert sich der kulturellen Sündenbockjagd. Und im Konfliktfall: legt sie den Schwerpunkt auf das gewaltfreie Zeugnis. Dieses darf allerdings nicht zu einem ethisch-politischen Imperativ reduziert werden. Das radikal gewaltfreie Zeugnis ist ein Ergebnis des Gnadengeschehens. Die göttliche Zuwendung trug ja den Gottesknecht, trug Ijob und die zahlreichen Heiligen. Sie trug auch Franz Jägerstätter. Den Inbegriff solcher Gnade stellt Christus selber dar. In Christus sollen wir deshalb für die Franz Jägerstätter zuteil gewordene Gnade danken und in ihm zuerst eine “begnadete Existenz” erblicken. Der gläubige Dank für die Gnade (und nicht der ethisch-politische Imperativ) ist nämlich die erste Pflicht der Christen.

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