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Stadt auf dem Berg?
(Kirche in der Spannung von Vorbild-Auftrag, Solidarisierung mit Sündern und eigener Schuld)

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Kirche soll strahlende Stadt auf dem Berge sein (Mt 5,14). Zugleich ist Kirche im Gefolge Jesu Christi aufgefordert, sich den moralisch Scheiternden barmherzig zuzuwenden. Da diese sich nicht nur auerhalb der Kirche finden, sondern auf anstigste Weise auch in ihren eigenen Reihen, gert sie dadurch selber ins Zwielicht. Wie kann Kirche dann noch Stadt auf dem Berg" sein? Es wird gezeigt, dass Kirche ihrem Auftrag angesichts der Schuldverstrickung nur nachkommen kann, indem sie selber in einen Widerstreit der Meinungen und Instanzen gert. Ein solches "dramatisches Kirchenverstndnis" soll auch an aktuellen Beispielen wie dem Beratungsschein fr Abtreibungen in Deutschland und der Problematik von wiederverheirateten Geschiedenen verdeutlicht werden.
Publiziert in:Kirche: Zeichen des Heils - Stein des Anstoßes. Vorträge der vierten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2003 (theologische trends 13): Hg. W. Sandler, A. Vonach, Frankfurt am Main 2004.
Datum:2004-06-29

Inhalt

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„Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr; es wird weggeworfen und von den Leuten zertreten.
Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ Mt 5,14-16.

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Kirche ist von ihrem Gründer gerufen, Vorbild zu sein. „Ihr seid das Salz der Erde ... das Licht der Welt ... eine Stadt auf dem Berg“ – so lehrte Jesus seine Jünger. Und die Kirche sieht sich unter ebendiesen Anspruch gestellt. (1) „Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben.“ Für weitreichende Sichtbarkeit sorgen heute die Medien. Da kommt Kirche aber nicht viel vor, und wenn, dann allzu oft in negativen Schlagzeilen. Dass das nicht nur an kirchenfeindlichen Übertreibungen liegt, zeigen die vielen Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch durch Priester, die in den vergangenen Jahren aufgedeckt wurden. Hat die Kirche angesichts solcher Skandale alle moralische Glaubwürdigkeit verspielt? Steht hier nicht die traurige Realität in äußerstem Gegensatz zum Auftrag der Kirche, als Stadt auf dem Berg und als Licht der Welt den Menschen zu leuchten?

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Solches Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit jener Kirche, die sich im Glaubensbekenntnis als heilige bezeichnet, (2) wird von der kritischen Öffentlichkeit in vielen Bereichen wahrgenommen. Diese Diskrepanz verlangt eine grundsätzliche Besinnung: In welcher Hinsicht soll Kirche Stadt auf dem Berg sein? Worin besteht ihr Vorbildauftrag? Wie ist die Tatsache ihres immer wiederkehrenden Scheiterns zu begreifen? Und, von der anderen Seite gefragt: Wofür braucht die heutige Welt eine vorbildliche Stadt, ein erhellendes Licht und ein belebendes Salz? All diese Fragen können nur beantwortet werden im Blick auf Jesus Christus, der das ursprüngliche Salz der Erde, das eigentliche Licht der Welt und die eigentliche Stadt auf dem Berg ist. In ihm gründet die Kirche, und von ihm her muss sie ihre Existenz verstehen, – den Anspruch, der sie leitet, und die Wirklichkeit, die sie immer wieder beschämt.

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1 Jesus, die eigentliche Stadt auf dem Berg

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1.1 Was Jesus mit der Stadt auf dem Berg meinte

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In welchem Zusammenhang steht Jesu Rede von der Stadt auf dem Berg? Sie ist Teil der Bergpredigt, die zur Anfangsphase von Jesu öffentlicher Verkündigung gehört. Diese kreist um die Botschaft vom nahe gekommenen Gottesreich. (3) Der Evangelist Markus hat sie dicht zusammengefasst: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Bereits im israelitisch-alttestamentlichen Verständnis gründet das Reich Gottes in einer kompromisslosen Neuausrichtung des Volkes auf seinen Gott: Gott selber wird König sein. (4) Solche Vorstellungen mussten anklingen, wenn Jesus in der Bergpredigt zu den Jüngern und zum versammelten Volk von einer Stadt auf dem Berg sprach. Es musste allen klar sein, dass es Jesus hierbei um eine gemeinschaftliche Wirklichkeit ging, – um das Volk Gottes, das dadurch Frieden und Heil findet, dass Gott ganz zur Mitte seines Lebens wird. Jesu Rede von der Stadt auf dem Berg ist also nicht in erster Linie moralisch zu verstehen. Nicht darum geht es, dass einzelne Menschen bezüglich einzelner moralischer Normen ein gutes Beispiel geben, sondern dass sich Menschen von der Wirklichkeit des nahen Gottes ergreifen lassen und so auch andere dafür gewinnen, – einfach aus ihrem verwandelten Sein heraus, nicht aus pädagogischer Absicht. (5)

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Das wird deutlich an Jesu eigenem Verhalten. Erst das Tun Jesu im Zusammenhang mit seinen Worten erschließt uns, was Jesus unter „Stadt auf dem Berg“ versteht. Jesu Worte vom Gottesreich ebenso wie sein heilendes und befreiendes Handeln gründen in einer Form des Seins, das nur als radikales Leben von dem einen Gott her beschrieben werden kann. Jesus ist ganz bereit, alles vom göttlichen Vater zu empfangen, und dieser Reichtum fließt in ihm dermaßen über, dass sich sein Reden und Handeln wie ein Reflex seines Seins ergibt. Die vollkommene Übereinstimmung von Jesu Reden und Tun mit seinem Sein verlieh seinem Auftreten eine Authentizität und Kraft, die niemanden gleichgültig ließ. (6) So konnte Jesus andere Menschen zu einem Gottesverhältnis führen, das dem seinen glich. In Jesu Handeln erfuhren die Menschen Gottes Handeln, in Jesu Worten vernahmen sie Gottes Wort, und in Jesu Sein erschloss sich ihnen Gottes Sein.

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Die Menschen, die von Jesus angerührt werden, gewinnen so die Möglichkeit, wie Jesus ganz von Gott her zu leben. Wenn sie diese Möglichkeit annehmen, lernen sie, wie Jesus alles vom göttlichen Vater zu empfangen und so auf jede innerweltliche Sicherung und Bestätigung zu verzichten. So leben auch sie von einem Reichtum, der dermaßen überfließt, dass sich ihr Reden und Handeln wie ein Reflex ihres verwandelten Seins ergibt. Sie erfüllen die Gebote nicht bloß äußerlich, sondern aus einer innersten Gottesbejahung heraus. So vermögen sie mühelos jenen Verschärfungen des Gesetzes zu entsprechen, die Jesus in der Bergpredigt formulierte. (7) Aus der erfahrenen Gottesfülle heraus können sie sich ohne Vorbehalte anderen Menschen zuwenden. (8) Vom gewandelten Sein her gewinnen ihr Reden und ihr Tun eine Übereinstimmung, die auch ihrem Wirken ein hohes Maß an Authentizität und Kraft verleiht. So müssen sie sich nicht erst bemühen, als Salz der Erde, Licht der Welt und Stadt auf dem Berg zu erscheinen. Sie sind es.

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Diese Deutung entspricht einer textlichen Besonderheit, die leicht übersehen wird: Jesus fordert die Jünger gar nicht dazu auf, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein. Er sagt den Menschen, die von seiner Gottesreichbotschaft bewegt wurden: „Ihr seid das Salz der Erde und das Licht der Welt.“ Eine weitere Bestätigung: Versteht man Jesu Bildworte von Salz, Licht und Stadt im Sinne eines verwandelten Seins, dann sind sie problemlos mit einem anderen Jesuswort aus der Bergpredigt vereinbar, das mit einer moralistischen Deutung von Mt 5,14-16 unverträglich wäre:

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„Wenn du Almosen gibst, lass es also nicht vor dir herposaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Gassen tun, um von den Leuten gelobt zu werden. Amen, das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut. Dein Almosen soll verborgen bleiben, und dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.“ (Mt 6,2-4)

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Jesus zielt eben nicht auf ein äußeres, absichtsvolles Leisten und Vorleben, das stets in der Gefahr steht, zur eigenen Selbstverherrlichung missbraucht zu werden. Vielmehr geht es ihm um die sichtbaren und wirksamen Früchte eines verwandelten Seins. Wenn Jesus also sagt: „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe“, (9) dann ist damit eine Umkehr des Seins gemeint, im Sinne einer radikalen Neuausrichtung auf den Gott, dessen barmherzige und reiche Nähe erschlossen wurde durch das Sein Jesu, der das ursprüngliche und eigentliche Salz der Erde und Licht der Welt ist. Und im selben Sinn ist es zu verstehen, wenn Jesus von den Menschen fordert: „Glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15).

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1.2 Die gemeinschaftsstiftende Wirkung der Stadt auf dem Berg

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Jesus ermöglicht durch sein eigenes gottbezogenes Sein eine Verwandlung des Seins der ihm begegnenden Menschen zu neuer Gottbezogenheit. Durch ihr neues Sein können diese Menschen andere Personen, denen sie begegnen, zu einer gleichsinnigen inneren Verwandlung anregen. Die radikale Ausrichtung auf Gott verbindet auf diese Weise immer mehr Menschen miteinander und ist so aus sich selbst heraus auf die Bildung und Erweiterung von Gemeinschaft angelegt. Charakteristisch für diese Form einer in Gott begründeten Gemeinschaft ist eine Offenheit auf grundsätzlich jeden Menschen, auch über soziale Grenzen hinaus. Jesus hat sich mit besonderer Hingabe den Ärmsten und Verrufenen zugewandt. Dieses Verhalten ist nicht irgendeine Idee Jesu unter anderen, sondern entspringt folgerichtig Jesu Gotteserfahrung. Wenn eine Person erfährt, dass sie unabhängig von eigener Größe und Leistung von Gott angenommen ist, kann sie sich ohne Berechnung dem jeweils begegnenden Menschen zum Nächsten machen. (10)

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1.3 Die gemeinschaftsbedrohende Wirkung der Stadt auf dem Berg, – bedrohlich für polarisierte Gemeinschaften

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Jesu vorbehaltlose Zuwendung zu den Unterprivilegierten und Ausgestoßenen rief massive Widerstände hervor. (11) Das Ausmaß von Wut und Hass, das Jesus durch sein Verhalten provozierte, ist nur begreiflich, wenn man sieht, dass er damit Menschen im Kern ihres gemeinschaftlichen Selbstverständnisses bedrohte. Gemeinschaftliche Identität kann durch Grenzziehungen gesichert werden. Gemäß dem Prinzip „wir sind wir, weil wir nicht so sind wie die anderen“ lässt sich das eigene Selbstbild durch unterschiedliche Zugehörigkeiten im Ausschlussverfahren sichern: Gläubige gegen Heiden, Gerechte gegen Sünder, Erwählte gegen Verworfene. Auch innerhalb einer Gemeinschaft lassen sich durch verschiedene Rangordnungen soziale Stabilität und sichere Zugehörigkeit erhalten. Wo Gemeinschaften bzw. Menschen innerhalb von Gemeinschaften ihre Identität solcherart durch Grenzziehungen sichern, muss Jesu grenzüberschreitendes Verhalten als gemeingefährlich und ordnungszersetzend erscheinen: wenn Jesus in der Mahlgemeinschaft keinen Unterschied mehr macht zwischen Gerechten und Sündern, wenn er sich vorbehaltlos Kranken und Aussätzigen zuwendet (die als von Gott Gestrafte galten), wenn er Kinder in die Mitte nimmt und sogar über die Erwachsenen stellt, wenn er mit Samaritern und sogar mit Heiden Gemeinschaft pflegt, wenn er bei seiner Zuwendung zu Menschen das Sabbatgebot übertritt und damit einen der sichtbarsten Unterschiede zwischen Juden und Heiden verwischt.

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1.4 Zwei Grundformen von gemeinschaftlicher Identitätssicherung

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Jesu provozierendes Verhalten entspringt der Grunderfahrung des nahen Gottesreichs. Es treibt grenzorientierte Menschen und Gemeinschaften in die Identitätskrise und stiftet zugleich auf eine ganz andere Weise Gemeinschaft. Menschen, die die Dankbarkeit gegenüber einem gütigen und verzeihenden Gott miteinander verbindet, finden nichts Bedrohliches am Dazukommen eines vormals Außenstehenden. Im Gegenteil, ihre Freude wird besonders groß sein. (12)

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Wenn Jesus Außenseiter der Gesellschaft in die Mitte stellt oder wenn er eine untergeordnete Person bevorzugt behandelt, scheiden sich die Geister der anwesenden Menge. Die verborgenen identitätsstiftenden Prinzipien werden sichtbar. Verdankt die Gemeinschaft ihren Zusammenhalt gemeinsamen Ausgrenzungen oder der gemeinsamen Ausrichtung auf den einen Gott? Richtet sich der Blick der Menschen taxierend auf die jeweils anderen oder ist er dankbar auf Gott hin orientiert? Im ersten Fall werden die Menschen Anstoß an Jesus und der von ihm eingeleiteten Gottesherrschaft nehmen, im zweiten Fall werden sie das Wunder des barmherzigen Gottes erfahren.

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Viele Predigten und Jesusdarstellungen betonen heute die Zuwendung zu den Ausgegrenzten als zentrales Merkmal von Jesu Wirken. Dabei besteht die Gefahr, dass diese sympathische Profilierung Jesu vor dem Hintergrund einer generellen Abwertung des zeitgenössischen Judentums erfolgt. Solche Schwarz-Weiß-Malerei fällt in Formen der Identitätssicherung durch Abgrenzung zurück, die Jesus gerade gebrandmarkt hat. Führt die Unterscheidung von zwei Grundformen der Identitätssicherung nicht zwangsläufig in solche Abgrenzungsmuster? Dagegen kann zumindest auf zwei Punkte hingewiesen werden:

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1. Jesu Zuwendung zu den Außenseitern gründet ganz in seiner Gottesbeziehung und erhält von ihr her ihren Maßstab. Sie entspringt gerade nicht einem Profilierungsbedürfnis auf Kosten konkurrierender Gruppen mit ihren dort gegebenen Missständen. Das zeigt sich daran, dass Jesus mit seiner Botschaft niemanden von vornherein ausschließt.

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2. Die Unterscheidung zwischen den zwei Grundformen einer grenzorientierten und einer an Gott orientierten gemeinschaftlichen Identität wird nicht durch eindeutige Zuordnungen zu konkreten gesellschaftlichen Formen festgelegt. Vielmehr handelt es sich hier um eine „idealtypische“ Grundunterscheidung. (13) Für konkrete soziale Gruppen (z.B. das zeitgenössische Judentum zur Zeit Jesu, oder auch die Kirche) ist anzunehmen, dass sie ihr Selbstverständnis auf uneindeutige Weise mehr oder weniger dem einen und dem anderen Prinzip verdanken. Die Begegnung mit Jesus führt zu Scheidung und Entscheidung in der betroffenen Menschenmenge: Wollen die Menschen ihre Identität ganz Gott verdanken oder ganz dem sozialen „Kitt“ von Aus- und Abgrenzungen?

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1.5 Die kritisch-richtende Funktion von Jesu Praxis der Gottesherrschaft

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So hat Jesu Zuwendung zu den Außenstehenden zugleich eine ausgesprochen kritische Funktion. Sie ist nicht nur selbstverständlicher Ausdruck von Jesu Gottesbeziehung und Einleitung von Gottesherrschaft, sie deckt auch in radikaler Weise gesellschaftliche Erscheinungsformen von Unglauben auf. Zugleich damit, dass den Menschen eine neue, versöhnte und versöhnende Form gemeinschaftlicher Identitätsbildung eröffnet wird, werden auch die gottlosen Formen der Identitätssicherung sichtbar. Durch die Begegnung mit Jesus werden Menschen und Menschengruppen befähigt und herausgefordert, ihr gemeinschaftliches Selbstverständnis radikaler auf Gott zu gründen. Wo sie sich dieser Möglichkeit verweigern, verfallen sie in verschärfter Weise einer Identitätssicherung durch Grenzziehung. Diese verlangt, jede Person, die Grenzen und Ordnungen nicht respektiert, radikal auszuschließen. Von daher erklären sich die Wut und der Hass, mit der Menschenmengen Jesus verfolgen.

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Wir sind nun bereits auf mehrere Aspekte von Jesu Wirken gestoßen:

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1. Gottesreichbotschaft: Jesu Verkündigung und Einleitung der Gottesherrschaft durch ein radikal auf Gott ausgerichtetes Sein und eine dadurch grundgelegte Gemeinschaftsbildung;

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2. Gericht: Jesu radikale Aufdeckung von ausgrenzenden, gottlosen Formen gemeinschaftlicher Identitätssicherung;

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3. Kreuz: Menschen, die sich dem mit Jesus anbrechenden Gottesreich entgegenstellen, müssen ihn zwangsläufig als identitätsbedrohenden Unruhestifter ausstoßen. Von daher kommt Jesu Schicksal des Kreuzestodes bereits in den Blick.

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1.6 Jesu Kreuz-Weg einer kritischen Solidarität

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Das gewaltsame Ende von Jesu irdischer Existenz kann von den bisherigen Überlegungen her als geradezu zwangsläufig aufgewiesen werden, – zumindest wenn man davon ausgeht, dass der Widerstand der Sünde durch den Lockruf des anbrechenden Gottesreichs nicht überall gebrochen werden kann. Überlegen wir dazu: Wenn die Wirklichkeit des Gottesreichs sich von Reichen dieser Welt dadurch unterscheidet, dass sie in keiner Weise auf Aus- und Abgrenzungen gründet, wie kann es dann noch verwirklicht werden, wenn ein Teil der Menschen sich selbst davon ausschließt? Es würde wieder ein „halbiertes“ Reich entstehen, in dem bisherige Ausgegrenzte zwar drin, dafür ein Teil der bislang Dazugehörigen draußen wären. So könnte es allenfalls zu einer Re-volution (14) kommen, die nur die Unteren nach oben und die Oberen nach unten spülte. Es würde eine weitere religiöse Splittergruppe mit spezifischen Zulassungs- und Ausgrenzungskriterien entstehen. Am Faktum von identitätsbestimmenden Grenzen würde sich nichts ändern. (15) Es ist deshalb unverzichtbar für die Wirklichkeit des Gottesreichs, dass Jesus die Beziehung zu jenen Menschen, die sich dem anbrechenden Gottesreich verschließen, aufrecht erhält.

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Diese Offenheit darf allerdings nicht durch Konzessionen erreicht werden, die der Eigenart des Gottesreichs nicht entsprechen. Wer der Meinung ist, nur in einem durch Abgrenzung gesicherten Gottesreich heimisch werden zu können, wird das Gottesreich in jedem Fall verfehlen. Entsprechende Warnungen kann Jesus den sich Verschließenden nicht ersparen. (16) Jesu Zuwendung zu den Verweigerern des Gottesreichs muss also die schwierige Form einer kritischen Solidarität annehmen. Damit ist ein mühevoller und auch für die so Begleiteten äußerst unbequemer Weg zwischen zwei Straßengräben markiert: Auf der einen Seite droht der Abweg einer Kritik, die die Solidarität aufgibt: entweder durch aggressive Aburteilung oder durch resignative Abwendung. Das von Jesus angekündigte Gottesreichs würde in diesem Fall an der Ausgrenzung seiner Verächter scheitern. – Auf der anderen Seite liegt der Abweg einer Solidarität, die gegenüber den radikalen Ansprüchen des Gottesreichs resigniert. Es würde ein Gottesreich zu verbilligten Konditionen verkündet, die Ausschlussphantasien duldet und mit Symbolen der Ausgrenzung lockt: Brot und Spiele für die Zugehörigen, das Schauspiel des Gerichts für die Außenstehenden; halbierter Friede (in der Stabilisierung von Gemeinschaften durch Polarisierung gegen feindliche Kollektive) oder „Friede minus eins“ (in der stabilisierenden Ausrichtung auf einen gemeinsamen Sündenbock) anstelle eines wahren, unverkürzten Friedens.

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Es ist möglich, von diesem zweiten Straßengraben einer „Solidarität ohne kritischem Widerstand“ her die Versuchungsgeschichten Jesu zu interpretieren. Denn wodurch kann ein moralisch höchststehender Mensch, den wir für Jesus von Nazaret anzunehmen haben, versucht werden, wenn nicht durch eine Pervertierung von dem, was ihm allein alles bedeutet, nämlich der in ihm heranreifenden Sendung zur vollmächtigen Verkündigung des Gottesreichs? Von daher lassen sich die Versuchungsgeschichten interpretieren als symbolhafte Verdichtungen der Versuchung, das Gottesreich durch Kompromisse mit den niedereren Motiven der Menschengruppen zu gewinnen: durch Brot (... spektakulär aus Steinen verwandelt: 1. Versuchung (17) ) und Spiele (im Spektakel des unversehrten Zinnensturzes: 2. Versuchung (18) ), wobei Jesus die reine Orientierung an Gott durch eine Selbstpräsentation als kollektive Identifikationsfigur ersetzen würde. Auf diese Weise verkauft sich ein Führer dem Willen der Massen und wird zu ihrem Spielball. Solches Verhalten führt zwangsläufig zur Korruption der anfänglich hohen Motive und läuft auf die teuflische Grundversuchung hinaus, vor dem Satan niederzufallen und ihn anzubeten, um alle Reiche der Welt zu gewinnen (und sei es auch für eine gute Sache: 3. Versuchung (19) ). Der Magier, der Brot aus Steinen zaubert, der Supermann, der auf den Tempelzinnen thront, – das sind die individuell und kollektiv narzisstischen Pervertierungen jener Stadt auf dem Berg und jenes Lichtes der Welt, deren Eigenart in der Durchsichtigkeit auf den wahren Gott besteht. Von daher ist es nur konsequent, dass Jesus den Versuchungen durch eine Erinnerung an die radikale und ausschließliche Ausrichtung auf Gott begegnet. (20)

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Unter allen möglichen Wegen ist der Weg der kritischen Solidarität der schwierigste und konfliktträchtigste. Dass Jesus seine Gegner nicht aufgibt, heißt faktisch, dass er sie mit seinem bedrohlichen Anspruch nicht in Ruhe lässt. In Jerusalem spitzt sich der Konflikt aufs Äußerste zu, – bis zum Tod Jesu am Kreuz. Das Kreuz erscheint so als Konsequenz einer bis ins Letzte durchgehaltenen Solidarität Jesu mit den Menschen, in bis zuletzt gewahrter Treue zu seiner Botschaft des Gottesreichs.

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Jesu Auferstehung erweist, dass der von Jesus gegangene Kreuz-Weg nicht in eine Sackgasse führte, sondern eine neue Möglichkeit der Versöhnung eröffnete. (25) Auferstehung bedeutet, dass Jesu Botschaft vom anbrechenden Gottesreich sich durch Gericht und Kreuz hindurch als tragfähig erwiesen hat, indem den in Ablehnung Verhärteten die Heilsmöglichkeit neu eröffnet wurde. Erneut und auf eine vertiefte Weise – mit einer vertieften Einsicht in das barmherzige Wesen Gottes, begegnend im vergebenden Gekreuzigten – sind sie zur Entscheidung für Jesu Gottesreichbotschaft aus ihrer Schuldverstrickung herausgerufen.

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Erst nach der Auferstehung – mit der Aussendung des Heiligen Geistes – erschließt sich den Jüngern der volle Sinn des Christusereignisses, mit dem Geist und der Kraft, das anbrechende Gottesreich in der Weise Jesu Christi zu leben. Die beginnende Kirche ist auf den Weg gebracht, in der Nachfolge Christi als Stadt auf dem Berg zu leuchten. (26)

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2 Kirche als Stadt auf dem Berg in der Nachfolge Jesu Christi

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2.1 Drei Erscheinungstypen von Kirche

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Die Bildworte vom Salz der Erde, vom Licht der Welt und der Stadt auf dem Berg konnten zunächst auf Jesus selber bezogen werden, wie er am Anfang seines öffentlichen Wirkens die Nähe der Gottesherrschaft in Wort, Tat und Sein verkörperte. Jesus vergegenwärtigte den grundlos vergebenden Gott vor allem durch seine solidarische Zuwendung zu Sündern. Damit geriet er selber ins Zwielicht. Menschen nahmen Anstoß an ihm, und er deckte – wiederum durch Wort und Tat – in ihnen die Abgründe einer ausgrenzenden, Gott-losen Identitätssicherung auf. Dies ging so weit, dass er selber ausgestoßen wurde: ans Kreuz genagelt und so auf schärfstmögliche Weise als Sünder gebrandmarkt.

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Es ergeben sich damit drei Grundgestalten, in denen Jesus während seines irdischen Wirkens vor den Menschen erscheint.

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j1. Jesus als strahlendes Vorbild („Stadt auf dem Berg“);

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j2. Jesus ins Zwielicht gesetzt durch seine Solidarisierung mit Sündern (z.B. Jesus, der „Fresser und Säufer“ (27) ;

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j3. Jesus ungerecht an den Pranger gestellt, indem die sündige Welt ihre eigene Sündigkeit auf den Schuldlosen projizierte („Jesus, der Gekreuzigte“, der „zur Sünde Gemachte“ (28) )

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Sieht man die wesensbestimmende Aufgabe der Kirche in der Vergegenwärtigung Jesu Christi und seines Werkes, (29) dann ergeben sich in Verlängerung dieser Grundgestalten Jesu ebensoviele Erscheinungstypen (30) für die Kirche:

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k1. Kirche als leuchtendes Vorbild („Stadt auf dem Berg“, „Licht der Welt“),

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k2. Kirche ins Zwielicht gesetzt durch ihre Solidarisierung mit Sündern,

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k3. Kirche ungerecht an den Pranger gestellt, indem die Sünder ihre Schuld auf sie projizieren.

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Es wird sofort sichtbar, dass hier noch wichtige Erscheinungstypen von Kirche fehlen. Völlig ausgeblendet ist geblieben, dass Kirche – im Unterschied zu Jesus – sich in eigene Schuld verstrickt. Woran liegt dieser Ausfall? – Kirche darf sich nicht nur als fortgesetzte Gegenwart Jesu Christi verstehen, (31) sie befindet sich auch in der Nachfolge jener Menschen, die Jesus gegenüber standen. (32) Damit ergeben sich drei weitere Erscheinungstypen:

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k4. (im Gegenüber zu j1) Kirche als Empfängerin von Gottes vergebender Gegenwart, die sich in Jesus zeigt;

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k5. (im Gegenüber zu j2) Kirche als ungerecht verurteilende, die die Gegenwart Jesu bzw. seines Heiligen Geistes in der Welt verkennt;

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k6. (im Gegenüber zu j3) sündige Kirche, die Christus verrät und an seiner Kreuzigung beteiligt ist (indem sie sich am Zerreißen seines Leibes – durch Ausschlüsse und Spaltungen schuldig macht (33));

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Eine Untersuchung konkreter Gestalten von Kirche im Blick auf diese sechs Erscheinungstypen wäre möglich, würde aber den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Es empfiehlt sich eine Vereinfachung durch Zusammenführung von ähnlichen Punkten.

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Berücksichtigt man, dass Kirche niemals aus sich selbst heraus, sondern durch Empfang von und Verweis auf Jesus Christus strahlendes Vorbild ist, kann k4 mit k1 zusammengeführt werden zu

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1. Kirche als leuchtendes Vorbild („Stadt auf dem Berg“, „Licht der Welt“).

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Weiters drücken k2 und k3 unterschiedliche Intensitäten von Verurteilung und Stigmatisierung von Kirche aus. Wir können es zusammenfassen zu

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2. Kirche ins Zwielicht gesetzt durch ihre Solidarisierung mit Sündern.

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Schließlich können auch k5 und k6 als unterschiedliche Intensitäten von sündiger Kirche zusammengeführt werden. Es ergibt sich

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3. sündige Kirche, die von Jesu Weg der kritischen Solidarität in die eine oder andere Richtung abweicht und so Jesus und seine Sache (d.h. das anbrechende Gottesreich) verrät.

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Diese drei Erscheinungstypen lassen sich nicht eindeutig konkreten Situationen der Kirche zuordnen. Vielmehr ist für konkrete Situationen in einem Prozess der Unterscheidung zu klären, ob und in welchem Maße sie einzelne dieser Erscheinungstypen widerspiegeln.

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2.2 Vorbild-Auftrag – Solidarisierung mit Sündern – Sündhaftigkeit der Kirche

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Mithilfe dieses Drei-Typen-Modells lässt sich die eingangs genannte Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Kirche auf differenzierte Weise interpretieren. Es geht dabei – wie im Untertitel angesprochen – um Kirche im Widerstreit zwischen Vorbild-Auftrag, Solidarisierung mit Sündern und eigener Sündigkeit.

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Vorbild-Auftrag: Kirche – und das ist zuerst Ortskirche, mit den konkreten Christinnen und Christen, mit mir selbst, aber auch Weltkirche mit ihrer römisch-zentralisierten institutionellen Organisation und Repräsentanz – Kirche in all diesen Dimensionen ist Stadt auf dem Berg / Licht der Welt / Salz der Erde. Sie ist das nicht in einer selbstverständlichen und unbedrohten Weise, sondern wenn und insofern sie sich ständig neu bewegen lässt durch die begnadende und vergebende Gegenwart Gottes in Jesus Christus. (34) Wie schon die Menschen, die Jesus begegneten, ist Kirche damit zu einer Entscheidung für Gott gerufen, – immer neu. Wenn und insofern sie diesem Ruf entspricht, vermag sie an Stelle Christi zu sprechen, zu handeln und zu sein. Jesus Christus wird durch sie hindurch gegenwärtig.

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Solidarisierung mit Sündern: Wenn Kirche den Ruf Gottes in der Begegnung mit Jesus Christus annimmt, wird sie auch in die Gemeinschaft mit Menschen geführt, die als Außenseiter, Versager und Sünder gelten. Dadurch wird ihr Image beeinträchtigt, und es ist Teil ihrer Entscheidung für Gott, das Risiko eines Imageverlustes auf sich zu nehmen. Kirche wird damit zum Stein des Anstoßes für andere Menschen, und zwar nicht notwendig aufgrund eigener Sündhaftigkeit, sondern aufgrund einer Nachfolge Christi, die sie in Widerspruch zu den Normen des Zeitgeistes bringen kann. Das eigentliche Ärgernis der Kirche besteht darin, dass der Anstoß, den sie aus authentischer Nachfolge Christi bildet, meist vermischt ist mit einer Anstößigkeit, die gerade aus der Ablehnung Gottes erwächst.

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Sündhaftigkeit der Kirche: Wo Kirche sich aber dem Ruf Gottes verweigert – und das kann durchaus auch aus der Sorge geschehen, den eigenen Ruf rein zu halten – verliert sie nicht einfach ihre Bestimmung, Stadt auf dem Berg zu sein. Vielmehr nimmt sie diese Rolle in einer anderen, abschreckenden Form wahr: Sie wird für die Welt zum Beispiel des Scheiterns und bezeugt so gleichsam als Negativfolie, dass an Gott vorbei kein Heil zu finden ist.So wie die Menschen, die das Heilsangebot Jesu zurückwiesen, nicht einfach in die vorherige Unentschiedenheit zurückfielen, sondern sich in einer Entschiedenheit gegen Gott verhärteten, so ist es auch mit Kirche. (35) Von daher ist es zu verstehen, dass Kirche, wenn sie scheitert, oft spektakulär scheitert. Die Maßlosigkeit hoher Ideale kippt um in eine Maßlosigkeit des Bösen. Nur wer Christus begegnet ist, kann ihn auch verraten. Und wer – durch Jesus Christus – mehr von Gott erfahren hat, kann ihn auch schärfer ablehnen.

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3 Kirche: Stadt auf dem Berg als Schauspiel für die Welt

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Wäre das Scheitern der sündigen Kirche das Ende ihrer Berufung, Stadt auf dem Berge zu sein, dann gäbe es längst keine Kirche mehr. Aber es ist anders. Die Begegnung mit Jesus Christus legt das Unentschiedene und Doppeldeutige frei. Es wird Gegenstand einer Entscheidung, und wo die Entscheidung gegen Gott ausfällt, wird das in aller Schärfe sichtbar. Deshalb ist die Kirche so voll von Versagen, und deshalb ist schon die Bibel so voll von Gewalt. Wo in der Begegnung mit Gott die Chance zur Umkehr nicht ergriffen wird, offenbart Sünde erst ihr innerstes Wesen einer Feindschaft gegen Gott und führt so zur versuchten Vertreibung Gottes, sichtbar geworden in der Kreuzigung Jesu. Gewiss ist dieses Freilegen der Sünde bei jenen, die sich der möglich gemachten Umkehr verweigern, Gericht. Aber es ist Gericht als Teil eines Prozesses, der in Erlösung mündet. So bedeutet das Scheitern von Kirche nicht ihre Blamierung und Suspendierung, sondern es ist Teil eines Transformationsprozesses, in der die Verstrickung in Sünde von ihren Wurzeln her überwunden wird.

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So ist das Kreuz, mit dem die Wurzelsünde der Gottesfeindschaft offen liegt, nicht das Ende. Vielmehr wird über die Auferstehung Jesu ermöglicht, dass die Menschen mit dieser Schuld nicht allein gelassen bleiben, sondern dass sich durch die Zuspitzung von Schuld hindurch Gott nochmals als gütiger und größer erweist als jenes Gottesbild, das von den Sündern bekämpft wurde. Damit erst – durch Kreuz und Auferstehung hindurch – erweist Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft ihre volle Kraft und Berechtigung: So werden die verstockten Sünder nochmals an den Anfangspunkt der Gottesreichverkündigung zurückgeholt. Mit ihrer offenbar gewordenen Sündhaftigkeit stehen sie vor dem Gott, der bereit ist grundlos zu vergeben.

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So ist Kirche in einer umfassenderen Weise Stadt auf dem Berg: nicht einfach dadurch, dass sie eine Vorbildlichkeit bezeugt, mit der sie sich von der Unmoral einer gottlosen Welt positiv abheben würde, sondern indem sie jenen Kreislauf von Berufung, Schuld und Vergebung bezeugt, der nicht nur für die Menschen der Kirche, sondern für die ganze Welt Rettung bedeutet. Nur so kann sie „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ sein. (36) Und nur so, indem die Kirche aus den Abgründen der Schuldverstrickung heraus immer wieder durch einen befreienden und vergebenden Gott herausgerissen wird, kann Kirche von sich sagen: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ (37)

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Mit ihrer Berufung zum Vorbild-Sein, in ihrer Solidarisierung mit Sündern in der Nachfolge Christi und mit ihrer eigenen Sünde durch die Verweigerung der Nachfolge wird Kirche für die Welt zum Schauspiel des Heilsdramas. Dazu gehört auch, was Paulus drastisch über die Existenz von Kirche geschrieben hat:

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„Ich glaube nämlich, Gott hat uns Apostel auf den letzten Platz gestellt, wie Todgeweihte; denn wir sind zum Schauspiel geworden für die Welt, für Engel und Menschen. Wir stehen als Toren da um Christi willen, ihr dagegen seid kluge Leute in Christus. Wir sind schwach, ihr seid stark; ihr seid angesehen, wir sind verachtet. Bis zur Stunde hungern und dürsten wir, gehen in Lumpen, werden mit Fäusten geschlagen und sind heimatlos. Wir plagen uns ab und arbeiten mit eigenen Händen; wir werden beschimpft und segnen; wir werden verfolgt und halten stand; wir werden geschmäht und trösten. Wir sind sozusagen der Abschaum der Welt geworden, verstoßen von allen bis heute.“ (1 Kor 4,9-13)

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Allerdings ist auch dieser letzte Platz, den Paulus hier beschreibt, nochmals zweideutig. Einerseits entspricht er der Nachfolge Christi bis ans Kreuz (im Sinne des zweiten Erscheinungstyps von Kirche), anderseits ist er aber auch Folge eigener Schuld aus der Verweigerung der Nachfolge Christi (im Sinne des dritten Erscheinungstyps von Kirche). Auch hier gilt es, dass Kirche beschimpft wird – aber zu Recht! – und dennoch weiter segnet; dass sie geschmäht wird – zu Recht – und trotzdem diejenigen zu trösten versucht, an denen sie selber schuldig geworden ist. Dass sie ihre Aufgabe der Repräsentation Christi auch mit ihrem verunstalteten Antlitz noch wahrzunehmen wagt, macht sie für viele endgültig zum Abschaum der Welt.

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Tatsächlich kann solches Verhalten – man denke an den in Schuld gefallenen Kardinal, der weiter segnete und seinen Anklägern vergab (38) – als Heuchelei und Zynismus erscheinen. Das ist so lange der Fall, als Kirche bzw. ihre Vertreter ihr Versagen nicht offen eingestehen. Dank dem Heilsplan Gottes ist dieses Fallen der Kirche selber eingewoben in das Schauspiel der Erlösung, das sie für die Welt darzustellen hat (um sie zur Teilnahme einzuladen). Von diesem Fallen aus wird sichtbar, wie Gott wieder aufrichtet, und es wird sichtbar, dass das Heil von Gott gewirkt wird und nicht von seinen schwachen menschlichen Repräsentanten.

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Deshalb ist es höchst bedeutsam, dass Kirche heute am Lernen ist, ihre Fehler der Vergangenheit und Gegenwart zuzugeben, wie es durch den Papst in den Vergebungsbitten des Jahres 2000 geschah. (39) Dadurch wird ihr Zeugnis für die Welt nicht verunklärt, sondern klarer. Umgekehrt gerät dieses Zeugnis überall dort ins Zwielicht, wo Kirche das Schauspiel, das sie vor der Welt darstellt, zu beschönigen versucht. Es ist eine Gnade Gottes, wenn er solche Beschönigungsversuche scheitern lässt, wenn er die Kirche durch das Gericht führt – auch mit der Konsequenz ihrer öffentlichen Anprangerung – um sie dadurch zur vollen Bezeugung des Heilsdramas zurückzuführen.

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4 Die Gefahr von verkürzten Kirchenbildern

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Was ergibt unsere Analyse für konkrete Situationen der Kirche? Im folgenden soll gezeigt werden, inwiefern verkürzte Kirchenbilder die Kirche in schlimmeres Versagen verstricken. Wir sahen, dass Kirche in einer Spannung von Vorbildanspruch, Solidarisierung mit Sündern und eigener Sündigkeit steht. Welche Gefahren ergeben sich, wenn einer dieser Aspekte vernachlässigt wird?

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4.1 Ausblendung der Verstrickung von Kirche in Sünde und ihre Folgen

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Wenn Kirche einseitig als strahlendes Vorbild gesehen wird, also der zweite Aspekt des Auftrags zur Solidarisierung mit Sündern und der dritte Aspekt der Sündenverstrickung von Kirche unterbelichtet bleiben, dann droht ein triumphalistisches Missverständnis von Kirche. Bei neuen kirchlichen Bewegungen und geistlichen Neuaufbrüchen können spektakuläre Anfangserfolge die Illusion einer ungebrochenen Erfolgsgeschichte entstehen lassen. Damit ist nicht nur die Frustration vorprogrammiert, es besteht auch die Versuchung zu einer Abwertung von Kirche außerhalb der eigenen Gruppe sowie zur Blindheit für eigene Fehler.

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Wenn eine Verstrickung von Kirche in Sünde unvorstellbar ist, dann bleiben angesichts von Versagen in der Kirche nur zwei Alternativen: Entweder das Versagen wird geleugnet und verdrängt, oder den Menschen und Kirchen, die versagt haben, wird die Kirchlichkeit abgesprochen. Ein solches Kirchenverständnis führt auf längere Sicht unvermeidlich zu Spaltungen. Eine „Kirche der Reinen“ will alle Unvollkommenen ausschließen um so als ungetrübtes Licht der Welt zu strahlen. (40)

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Verhängnisvoll wird es auch, wenn Menschen in der Kirche, die ein derart reduziertes Kirchenbild vertreten, mit eigener Schuldverstrickung konfrontiert werden. Gemäß ihrem eigenen Urteil würden sie in der Kirche keinen Platz mehr finden, und so ist ihnen eine Einsicht in ihre eigene Schuld unerträglich. Sie wird verdrängt, und unerkannt kann sie verheerend anwachsen. Von daher werden die Tragödien suchtkranker Priester begreifbarer, – von Alkoholabhängigkeit bis zu sexuellen Abhängigkeiten, die sie in den fortgesetzten und immer schlimmeren Missbrauch anderer Menschen treiben. Eine überzogene Vorstellung von ihrer Rolle als kirchliche Vorbilder verhindert, dass sie ihre Verstrickungen so weit einsehen und offenlegen, dass eine therapeutische Hilfe möglich wird. Diese Tragik setzt sich auf institutioneller Ebene fort, wenn leitende kirchliche Repräsentanten aufgrund einseitiger Vorstellungen von einer Vorbildkirche meinen, Missbrauchsfälle vor der Öffentlichkeit verschleiern zu müssen. So konnte es zu halbherzigen „Lösungen“ kommen, die weder Opfern noch Tätern half und die Möglichkeit weiterer Missbrauchsfälle nicht ausschloss. Dass der Skandal von sexuellem Kindesmissbrauch in der Kirche solche Dimensionen annehmen konnte, wurde wohl erst ermöglicht durch die weite Verbreitung eines Kirchenbildes, das Schuld von Kirche und damit von kirchlichen Repräsentanten nicht zu integrieren vermag.

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4.2 Kirche in der Nachfolge des Gekreuzigten ohne Kirche der Sünder

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Wenn von den drei Erscheinungstypen von Kirche der erste und der zweite, aber nicht der dritte wahrgenommen wird, dann sind schlimme Pervertierungen möglich. Kirche – oder kirchliche Repräsentanten – die infolge echter Schuld am Pranger stehen – werden als Leidensgestalten in direkter Kreuzesnachfolge angesehen. Und Opfer, die sich zu Recht wehren, werden der Verleumdung unschuldiger Menschen und der Kirchenhetze geziehen. Wenn diesen Menschen durch kirchliche Täter auch noch großmütig Vergebung angeboten wird – ohne jedes Eingeständnis eigener Schuld, im Habitus christlicher Feindesliebe – dann ist der Zynismus nur noch schwer zu überbieten.

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Der „Fall Groer“

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Auf derartige Pervertierungen stößt man in der Geschichte des „Falls Groer“. (41) Zumindest bis andere Bischöfe die moralische Gewissheit seiner Schuld feststellten, erweckte der Kardinal durch sein beständiges Schweigen bei gutgläubigen Christen den Eindruck, er wäre ein unschuldig verfolgtes Opfer (der Medien, des Zeitgeistes), ja sogar ein Leidesknecht in direkter Nachfolge des Gekreuzigten. (42) Unter der höchst naheliegenden, wenn auch nicht im Letzten bewiesenen Annahme einer Schuld Groers stellt sich die Frage: Wie war ein solches Verhalten bei einem Menschen möglich, dem aufgrund des Zeugnisses vieler ein hohes christliches Engagement und Ethos zuzubilligen ist? Einer Antwort ohne moralisierende Aburteilungen kommen wir durch die Annahme näher, dass ein verkürztes Kirchenbild – im Sinne einer Undenkbarkeit von in Sünde verstrickter Kirche – es Groer von Anfang an schwer machte, bestimmte eigene Probleme offen anzuschauen und dafür die nötige Hilfe zu suchen. So dürfte er zunehmend tiefer in eine Schuldverstrickung hineingeschlittert sein, die es ihm immer unmöglicher machte, auf angemessene Weise damit umzugehen. Zuletzt dürfte sein beständiges Schweigen wohl von der Überzeugung getragen worden sein, dass ein Schuldeingeständnis dem Image der Kirche einen unvertretbaren Schaden zufügen würde. Angesichts der Tatsache, dass sein Schweigen der Kirche wahrscheinlich einen viel größeren Vertrauensverlust bescherte, erscheint Kardinal Groer als zutiefst tragische Gestalt, – als ein Mensch, der auf furchtbare Weise verkürzten Kirchenvorstellungen erlag und sich so beständig tiefer in eine anwachsende Schuld verstrickte. (43)

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4.2 Vernachlässigung des Auftrags zur Solidarisierung mit Sündern

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Das Ideal einer vollkommenen Kirche birgt in sich die Versuchung zur Ausgrenzung von Menschen, die für sündig oder unwürdig gelten. Davon war eben schon die Rede. Ich möchte nun auf eine weniger extreme, aber gleichwohl höchst anstößige und die heutige Kirche polarisierende Problematik eingehen: den Ausschluss vom Sakramentenempfang für wiederverheiratete Geschiedene.

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Kommunionverbot für wiederverheiratete Geschiedene

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Wiederverheiratete Geschiedene werden zwar nicht im Sinne einer Exkommunikation aus der Kirche ausgeschlossen, aber ihnen wird der Empfang von Sakramenten untersagt, wobei der Ausschluss vom Bußsakrament nicht weniger schwerwiegend ist als der Ausschluss von Kommunionempfang in der Eucharistie. (44) Mit Verweis auf Jesu radikale Ablehnung der Ehescheidung (45) sieht die katholische Kirche sich nicht in der Lage, die Lebensform fester Partnerschaften von Geschiedenen zu tolerieren. (46)

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Allerdings steht Jesu grundsätzliche Ablehnung der Ehescheidung im Zusammenhang mit seiner Botschaft vom anbrechenden Gottesreich, – einer Botschaft, die Jesus in großer Barmherzigkeit vor allem Sündern zugesprochen hat. Um Jesu radikale Worte richtig zu verstehen, müssen sie im Zusammenhang mit seinem barmherzigen Handeln begriffen werden. Sie dürfen nicht als Gesetzestexte mit Verbot und Strafe aus diesem Zusammenhang gerissen werden. (47) Damit ist die Radikalität von Jesu Forderungen keineswegs entschärft. Aber ihr entscheidendes Anliegen wird zentraler. Bei den Ehescheidungsaussagen liegt dieses in der Hartherzigkeit, die bei der Ausstoßung einer Ehefrau zutage tritt. (48) Mit einer rigiden eherechtlichen Anwendung läuft Kirche Gefahr, selber der Hartherzigkeit zu verfallen.

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Wenn sich Kirche auf Jesu Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe beruft, dann verwundert allerdings ein Unterschied zwischen Jesu Worten und der kirchlichen Rechtpraxis: Jesus verurteilt bereits die Scheidung, während die katholische Kirche erst die Wiederverheiratung von Geschiedenen sanktioniert. (49) Überdies bleibt die Frage ungeklärt, warum die Kirche ausgerechnet ein Kommunionverbot als Strafe vorsieht. Die einschlägigen lehramtlichen Dokumente geben eine Antwort. In ihnen wird nämlich nicht nur mit der Lehre Jesu argumentiert, sondern vor allem mit einem Vergleich zwischen dem Ehebund und Jesu Bund mit der Kirche. Im Schreiben „Familiaris Consortio“ von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 1981 heißt es:

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„Die Kirche bekräftigt jedoch ihre auf die Heilige Schrift gestützte Praxis, wiederverheiratete Geschiedene nicht zum eucharistischen Mahl zuzulassen. Sie können nicht zugelassen werden; denn ihr Lebensstand und ihre Lebensverhältnisse stehen in objektivem Widerspruch zu jenem Bund der Liebe zwischen Christus und der Kirche, den die Eucharistie sichtbar und gegenwärtig macht. Darüber hinaus gibt es noch einen besonderen Grund pastoraler Natur: Ließe man solche Menschen zur Eucharistie zu, bewirkte dies bei den Gläubigen hinsichtlich der Lehre der Kirche über die Unauflöslichkeit der Ehe Irrtum und Verwirrung.“ (50)

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Höchst problematisch ist auch der Gegenstand des Ausschlusses, nämlich der Kommunionempfang in der Eucharistie, sowie die den Kommunionempfang ermöglichende Lossprechung im Bußsakrament. Beide Sakramente vollziehen die vergebende und schuldtransformierende Zuwendung Jesu zu den Sündern. Kann Kirche es verantworten, ausgerechnet jene Menschen von den zentralen Mysterien dieser Transformation fernzuhalten, die sie als besonders schuldverstrickt brandmarkt?

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Zweifellos besteht hier eine Diskrepanz zwischen Jesu exemplarischem Handeln und dem Handeln von Kirche. Könnte diese Diskrepanz durch eine ersatzlose Abschaffung des Kommunionverbots für wiederverheiratete Geschiedene überwunden werden? Nein, denn tatsächlich besteht die Aufgabe für Christen, durch ihre Lebensform (auch als Verheiratete unter dem Sakrament der Ehe) die Treue Jesu Christi zu vergegenwärtigen. Kirche ist auch im Gefolge Jesu Christi zur kritischen Solidarität gerufen: Sie muss die Menschen auch warnen, dass das Gottesreich unter bestimmten Bedingungen – hier: einer in bestimmten Lebensformen sichtbar gewordenen Hartherzigkeit (52) – nicht gewonnen werden kann. In dieser Hinsicht muss dem kritisierten lehramtlichen Text eine tiefe Berechtigung zugesprochen werden.

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Es gibt hier also keine einfache Lösung. In der Frage der wiederverheirateten Geschiedenen muss Kirche den schwierigen Weg der Nachfolge von Jesu kritischer Solidarität neu finden: indem sie Formen des Rechts und der pastoralen Praxis entwickelt, die die wiederverheirateten Geschiedenen nicht mit ihrer Schuldverstrickung allein lässt (in einer Kritik ohne Solidarität, die selber hartherzig ist und sich dem Gericht Christi aussetzt), aber sie auch nicht durch Solidarität ohne Kritik unterschiedslos zulässt: Denn damit wären sie wiederum mit ihrer Schuldverstrickung allein gelassen. Kirche müsste vielmehr neue Wege der Begleitung von Geschiedenen und wiederverheirateten Geschiedenen entwickeln und auch zulassen. Solche Begleitung soll helfen, die Hartherzigkeit, die bei Trennungen und Neubindungen die Ehepartner, Kinder und Mitbetroffenen verletzt, zu gegenseitiger Achtung, Vergebung und zu besseren neuen Beziehungen zu transformieren. Eine Einbindung kirchlicher Öffentlichkeit (der jeweiligen Pfarrgemeinde) in solche Versöhnungsprozesse würde der Offenkundigkeit von Schuldverstrickungen bei wiederverheirateten Geschiedenen entsprechen. In der frühen Kirche wurden schwere Sünder für eine bestimmte Zeit von der eucharistischen Kommuniongemeinschaft ausgeschlossen, – sie blieben allerdings im hinteren Teil des Kirchenraums, zusammen mit den Katechumenen anwesend. Diese Bußzeit endete mit einer feierlichen Wiederaufnahme in die volle eucharistische Gemeinschaft. (53) Es wären Formen einer öffentlichen Buße zu entwickeln – mit intensiver Versöhnungsarbeit in kleinen Gruppen und deren öffentlich-kirchlicher Begleitung im liturgischen Gebet durch die Pfarrgemeinden – die nicht nur für wiederverheiratete Geschiedene sondern auch für andere ChristInnen mit weniger offenkundigen Beziehungs- und Schuldproblemen ein wertvolles Angebot bedeuten würden. (54) Der Gefahr einer öffentlichen Brandmarkung von Sündern entkommt man dann, wenn die Beteiligung an solchen Bußformen erstens freiwillig erfolgt, wenn sie zweitens für verschiedene Formen der Schuldverstrickung und Entfremdung von der Kirche vorgesehen ist (wobei dann die spezielle Art der Schuld von Büßern für die Öffentlichkeit nicht mehr eindeutig erkenntlich ist) und wenn sie drittens in Formen (etwa des gemeindlichen Fürbittgebets) erfolgt, die die selbstkritische und bußfertige Haltung aller Gemeindemitglieder unterstreicht. Die feierliche Wiedereingliederung von Büßern könnte ein großes Fest in Pfarrgemeinden sein, z.B. wie in der frühen Kirche im Zusammenhang mit der Osternachtsfeier. Dem Entscheidungscharakter des christlichen Glaubens könnte durch solche persönlich anspruchsvollen Formen der Wiedereingliederung besser entsprochen werden. (55)

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4.3 Unterschätzung des Auftrags, „Stadt auf dem Berg zu sein“

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Die drei Erscheinungstypen von Kirche legen ein drittes verkürztes Kirchenbild nahe: die Unterschätzung des Auftrags von Kirche, Vorbild und Orientierung für alle Menschen zu sein. Gewiss ist die Kirche durchwegs in Gefahr, hinter diesem Auftrag zurückzubleiben, sei es aus Nachlässigkeit, billigem Arrangement mit dem Zeitgeist, Feigheit usw. Nicht um solches Zurückbleiben hinter einem als gültig eingesehenen Anspruch soll es uns hier gehen, sondern um Verkürzungen auf der Ebene der Einsicht, – um einseitige Vorstellungen von Kirche, die zu falschem Verhalten führt, das gar nicht mehr als solches erkannt wird.

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Eine Unterschätzung des Auftrags, „Stadt auf dem Berg zu sein“ passiert auch dann, wenn die anderen zwei Erscheinungstypen der Kirche überbetont werden. Das kann leicht passieren in einer Überreaktion auf Verkürzungen, wie sie oben dargestellt wurden, – wenn etwa Priester die Überheblichkeit und Überforderung eines moralistischen Vorbildchristentums abschütteln und betont ihr Sein-wie-alle-anderen hervorkehren. Die Kirche gerät aber auch immer wieder in geschichtliche Situationen, in denen die richtige Vermittlung von Vorbildanspruch und Solidaritätsverpflichtung unmöglich erscheint. Ein Beispiel für eine solche Dilemma-Situation von Kirche ist der Streit um die kirchliche Schwangerenkonfliktberatung in Deutschland.

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Das Dilemma der Schwangerenkonfliktberatung (56)

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Aufgrund einer gesetzlichen Neuregelung der Schwangerschaftsabbruchs (§§ 218ff des deutschen Strafgesetzbuches) aus dem Jahr 1995 ist in Deutschland unter bestimmten Bedingungen eine straffreie Abtreibung möglich, vorausgesetzt dass vorher eine Schwangerenkonfliktberatung stattgefunden hat. Die Gesetzgeber verfolgten dabei das Ziel, anstelle eines Abtreibungsverbots (das politisch auch niemals durchsetzungsfähig gewesen wäre) durch eine verpflichtende Beratung auf eine Erhaltung des gefährdeten Lebens hinzuwirken. Damit ist die gesetzliche Situation zum Schutz von werdendem Leben weniger schlecht als in anderen Staaten (z.B. Österreich), die eine Fristenlösung ohne Beratungspflicht haben. Beratungsstellen, von denen viele kirchlich oder kirchennahe sind, werden so eher aufgesucht. Durch eine qualifizierte Beratung verbunden mit wirksamen Unterstützungsangeboten konnten viele Frauen, die die Beratungen mit festem Abtreibungswunsch nur zum Erhalt der straffrei stellenden Bestätigung aufsuchten, zur Entscheidung motiviert werden, ihr Kind nicht abzutreiben.

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Anderseits wird die Kirche durch die Ausstellung einer Beratungsbestätigung, die den Weg zur Abtreibung ebnet, in ein staatliches System der Tolerierung von Abtreibungen hineingezogen. „Die Klarheit und Entschiedenheit des Zeugnisses der Kirche und ihrer Beratungsstellen“ für die unbedingte Erhaltung ungeborenen menschlichen Lebens würde „verdunkelt“. (57) Diese Gefahr hat der Papst gesehen und deshalb die deutschen Bischöfe dringend ersucht, von der Ausstellung eines Beratungsscheines abzusehen. Zugleich damit forderte er die deutsche Kirche auf, "auf wirksame Weise in der Beratung der hilfesuchenden Frauen präsent" zu bleiben. (58)

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Was aber ist die Folge einer Verweigerung der Beratungsbestätigung durch kirchliche und kirchennahen Beratungseinrichtungen? Diese werden von Frauen, die eine Abtreibung erwägen, nicht mehr aufgesucht; Gynäkologen, die mit unerwünschten Schwangerschaften ihrer Patientinnen konfrontiert sind, werden nicht mehr wie bisher mehrheitlich auf kirchennahe Beratungseinrichtungen verweisen (können), weil diese die gesetzlichen Bedingungen nicht erfüllen. Viele Frauen werden deshalb Beratungsstellen aufsuchen, die sich weniger für die Erhaltung ungeborenen Lebens und entsprechende Unterstützung für in Not befindliche Mütter einsetzen. Mit dem Verbot einer Ausstellung von Beratungsbestätigungen verhindert Kirche somit indirekt die Rettung zahlreicher ungeborener Kinder vor Abtreibungen. (59)

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Mehrere deutsche Bischöfe sahen dieses Problem und versuchten deshalb, dem Papst eine bedingte Zulassung der Schwangerenkonfliktberatung unter den staatlich vorgegebenen Bedingungen abzuringen. Mit allergrößtem Einsatz kämpfte dafür der Limburger Bischof Franz Kamphaus. Er hatte in seiner Diözese ein eigenes Hilfsprojekt für abtreibungswillige Schwangere eingerichtet und die Problematik der Beratungsstellen sowie die Schicksale schwangerer Mütter in vielen Besuchen persönlich kennengelernt. (60) Er sah zwar auch das vom Papst so sehr betonte Problem einer Verdunklung der kirchlichen Botschaft in aller Klarheit (61) . Noch wichtiger als eine eindeutige Zeichen- und Vorbildrolle der Kirche war für ihn der solidarische Einsatz für die Ärmsten. Und zu diesen zählte der für die Armut in der Welt hoch sensible Bischof ausdrücklich viele der schwangeren Mütter. Im Dilemma zwischen Vorbildauftrag und Solidarisierungauftrag der Kirche entschied sich Kamphaus mit allem Nachdruck für Hilfe und Solidarität.

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„Wer im Schlamassel verwickelter Lebenssituationen den Finger rührt, macht sich die Hände dreckig. Er muss mit Missdeutungen rechnen. Damit ist er noch lange nicht moralisch diskreditiert. Wer in der Wegweisung klar ist, kann Menschen nachgehen, die vom Weg abgekommen sind. Das hat Tim Robbins mit dem Film Dead Man Walking gezeigt. Eine amerikanische Ordensfrau besucht einen zum Tode Verurteilten. Obwohl sie eine kompromisslose Gegnerin der Todesstrafe ist, muss sie sich auf das vorgegebene Rechtssystem einlassen. Deshalb wird sie öffentlich beschimpft. Aber hätte sie den grausamen Mörder und Vergewaltiger alleinlassen sollen? Ist sie in ein System verwickelt, das die Todesstrafe rechtfertigt? Ist sie moralisch kompromittiert? Im Gegenteil!

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Solchen Konflikten haben sich Seelsorger immer wieder ausgesetzt, sei es in der Betreuung von Sklaven, sei es in der Militärseelsorge, gleich ob in Vietnam, am Golf oder in Hitlers Wehrmacht. Das hat sie stets angreifbar gemacht. Ist der Papst dadurch moralisch desavouiert, dass er nach Kuba reist und sich auf das menschenverachtende System einlässt, um zu retten, was zu retten ist? Offenkundig nicht! Wer meint, mit dem Rückzug aus der Schwangerschaftskonfliktberatung wieder auf festem Terrain zu stehen, der täuscht sich. ...

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Es gibt in unserer Gesellschaft nicht nur einzelne moralisch angreifbare Gesetze und Institutionen. Die Gesellschaft selbst ist vom Zwiespalt zwischen moralischen Ansprüchen und ihrer Verwirklichung gezeichnet. Kann jemand, der sich auf eine solche Gesellschaft einlässt, reine Hände behalten? Wer daran arbeitet, dass die Welt nicht schlechter wird, muss sich ihr stellen. Er muss sich auf kaum zu lösende Situationen einlassen und Begleitung anbieten, auch auf die Gefahr hin, dass jemand der Wegweisung nicht folgt. Können wir ertragen, dass wir in der Vermittlung dessen, was uns heilig ist, scheitern? Oder wollen wir uns nur dort engagieren, wo wir Erfolg erwarten können? Wir werden die Verhältnisse nur dann zum Besseren wenden, wenn wir dazu Wege aufzeigen und sie mitgehen.“ (62)

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Kirche, die sich beim Einsatz in einer sündenverstrickten Welt selber die Hände schmutzig macht, die sich solidarisch auf Menschen einlässt, die – oft ohne persönliche Schuld – in Strukturen der Sünde verstrickt sind: Eine solche Kirche riskiert, schlechte Stadt auf dem Berg und ein verdunkeltes Licht der Welt zu sein. Aber sie steht damit nicht im Widerspruch zum Beispiel Jesu, sondern folgt Jesus nach, – allerdings in einer Nachfolge bis in die Not und Zerrissenheit des Kreuzes.

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Wie passt zum eben Gesagten der Streit um die Schwangerenkonfliktberatung? Ist hier Bischof Kamphaus das Beispiel für eine solidarische Kirche, die ihr sauberes Image riskiert, um mit den Sündern die Sünde zu überwinden? Steht dann Papst Johannes Paul II. als Gegenbeispiel für eine Kirche, die um jeden Preis ihren Ruf wahren will und sich deshalb für den möglicherweise inkriminierenden Einsatz in der Schwangerenkonfliktberatung die Hände nicht mehr schmutzig machen will? So stellte es sich für viele dar. Und dennoch sind beide angefragten Positionen schief. Gewiss gab Kamphaus mit seinem Einsatz ein bewegendes Beispiel für solidarische Kirche, – als Stadt auf dem Berg im denkbar besten Sinn. Aber was hat er dabei riskiert, – inwiefern drohte durch sein Verhalten das Beispiel der Kirche verunklärt zu werden? Diese Frage lässt sich nicht beantworten, wenn man den Bischof als gutes Beispiel für Kirche gegen den Papst als schlechtes Beispiel (im Hinblick auf die Problematik Schwangerenkonfliktberatung) ausspielt. Was Bischof Kamphaus in seinem Einsatz für die betroffenen Frauen (die Beraterinnen und die Beratenen...) riskierte, war die Einheit einer Kirche, die trotz ihres solidarischen Einsatzes kompromisslos zu ihrer Zeichenhaftigkeit für das Leben stehen muss. Wenn man das berücksichtigt, wird die Größe des Bischofs nicht gemindert, im Gegenteil: nur so wird deutlich, was ihm der von ihm beschrittene Weg tatsächlich abverlangte. Sein Verhalten lässt erkennen, dass ihm nicht nur der ungeschmälerte Einsatz für die werdenden Mütter, sondern auch das Anliegen des Papstes für eine unverwässerte Position der Kirche gegen Abtreibung und vor allem die Einheit der Kirche – verwirklicht durch die Einheit zwischen Bischöfen und Papst – ein überaus tiefes Anliegen war. Sein Gewissensgehorsam gegenüber einer Kirche – die unter dem Anspruch Christi steht, den Sündern nachzugehen – zwang ihn dazu, gegen sein innerstes Wollen dem Papst ins Angesicht zu widerstehen. Dass er damit Applaus von Kirchenkritikern erhielt, die das Anliegen von kirchlicher Einheit längst aufgegeben haben, dürfte für ihn besonders schmerzhaft gewesen sein. Dass Bischof Kamphaus dem Ehrenattribut eines antirömischen Widerstandskämpfers nichts abgewinnen konnte, zeigte sich deutlich an seinem Verhalten, als seine Diözese vom Papst zu einem Verbot des Beratungsscheins gezwungen wurde: (63) Er trat nicht zurück – ein Rücktritt aus Protest hätte gewiss seine Popularität gesteigert und die Polarisierung von Kirche in Deutschland zugleich ungemein angefacht – er begann auch nicht einen Untergrundkampf gegen das Verbot des Papstes, sondern versucht seitdem, im Rahmen der durch den Papst festgelegten ungünstigen Umstände das Anliegen, das ihn mit dem Papst von Anfang an verband, nach Kräften weiterzuverfolgen: nämlich, die Beratung und Unterstützung der Kirche für die hilfebedürftigen Frauen sogar noch zu vertiefen.

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Auf der anderen Seite bewies auch der Papst im Konflikt um die Schwangerenkonfliktberatung eine für konservative Kritiker nur schwer verständliche Vorsicht und Geduld. Zahlreiche Briefe an die deutschen Bischöfe und an Bischof Kamphaus im Besonderen belegen Wertschätzung und Verständnis des Papstes für das Engagement und die Positionen der Gegenseite, – weit über diplomatische Höflichkeiten hinaus. (64) Gewiss wurde seine Geduld durch die fortgesetzten Widerstände von großen Teilen des deutschen Episkopats auf eine harte Probe gestellt, – und dennoch blieb er über lange Strecken bei Appellen, die auch der Kreativität des Episkopats für neue Lösungen Spielraum ließ.

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So haben Strukturen der Sünde – in diesem Fall die in Gesetzgebungen verankerte Tolerierung der Tötung menschlichen Lebens – die Kirche in ihrem Einsatz für den Wert des Lebens in einen Konflikt hineingerissen, in dem die gegnerischen Parteien jeweils berechtigte Anliegen verfolgten. Jeder der beiden Parteien – der Papst auf der einen und deutsche Bischöfe auf der anderen Seite – war kritische Solidarität mit der jeweils anderen Seite abverlangt. Und für jede der beiden Parteien bestand die Versuchung einer gewaltsamen Lösung, die in eine Spaltung geführt hätte. Keine hat dieser Versuchung nachgegeben. Und so sprechen dieser Konflikt und die Form, in der er durchstritten wurde, wenigstens in Manchem doch wieder für die Kirche: ein Hauch von Kirche als Stadt auf dem Berg, nicht für viele sichtbar, sondern nur für jene, die genau hinschauen, – aber von ganzer Kirche, in der Spannung widerstreitender Anliegen, und nicht von einzelnen Streitern, denen das Kirche-Sein gegen andere zugesprochen wird.

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Das ist zu würdigen, auch wenn die kirchlichen Auseinandersetzungen auf anderen Ebenen nicht frei blieb von harten Polarisierungen und auch wenn das konkrete Ergebnis dieses Konflikts keineswegs zufrieden stellt. Die Schwangerenkonfliktberatung wird unter ungleich ungünstigeren Umständen weitergeführt. (65) Was bleibt, ist die eindeutige Distanzierung von einem Abtreibungsgesetz, das zwar weniger schlecht ist als die Fristenlösungen anderer Staaten, aber gleichwohl mit dem Grundwert der unbedingten Erhaltung menschlichen Lebens unvereinbar bleibt.

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An dem kirchlichen Streit um die Schwangerenkonfliktberatung zeigt sich etwas Grundsätzliches: Der Auftrag, in Nachfolge Christi zugleich vorbildhaftes Zeichen und solidarisch mit Sündern zu sein, führt die Kirche angesichts der Sündenverstrickung der Welt in einen Zustand innerer Zerrissenheit. Die Anforderung von kritischer Solidarität kann über Strecken nur so verwirklicht werden, dass bestimmte Teile der Kirche mehr die kritische Solidarität und andere mehr die kritische Solidarität betonen. Damit gerät Kirche selbst in die Zerreißprobe. Uneinigkeit in der Kirche ist deshalb nicht ausschließlich darauf zurückzuführen, dass Kirche selber in Sünde gefallen ist. Sie kann auch Teil der Nachfolge Christi sein, die bis ans Kreuz führt. Jesu Leidensweg, beginnend mit seiner Verzweiflung am Ölberg bis zu seinem Sterben am Kreuz spiegelt sich in der Zerrissenheit von Kirche: In beiden Fällen ist es sein Leib, der durch die Sünde zerrissen wird. Für Kirche ist es wichtig zu wissen, dass solche Zerreißproben nicht in jedem Fall Folge ihres eigenen Versagens ist. So können die Gegner in kirchlichen Konflikten einander auch dann noch Einsicht und guten Willen zuerkennen, wenn sie selber gehalten sind, aus Gewissensgründen Widerstand zu leisten.

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Anmerkungen:  

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 1. Die Kirchenkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils bezieht die Ausdrücke „Licht der Welt“ und „Licht der Völker“ („lumen gentium“, namengebend für die Konstitution) zuerst auf Jesus Christus (vgl. LG 1,1; 1,3). Da sie das Wesen der Kirche aber in der Vergegenwärtigung Jesu Christi und seines Heilswirkens sieht, spricht sie den Auftrag, Licht der Welt und Salz der Erde zu sein, auch der Kirche als dem messianischen Gottesvolk zu (vgl. LG 2,9).

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2. Das Bekenntnis „ich glaube an die heilige katholische Kirche“ kann nur im Blick auf Jesus Christus gesprochen werden, der das verwandelnde Zentrum der Kirche ist (v.a. im Vollzug des Sakraments der Eucharistie). Von dieser Mitte her wird Kirche immer neu gereinigt und transformiert. So kann das Zweite Vatikanische Konzil ohne Widerspruch von Kirche sagen, sie ist „zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung“ (Lumen Gentium 2,8). Vgl. auch unten, Anm. 32.

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3. Vgl. in diesem Band: Hasitschka , Von Jesus zur Kirche.

132
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4. Vgl. Sach 14,9, Jes 24,23, Ps 47, Dan 2,44.

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5. Wohl am schönsten ist diese Vorstellung beim späten Propheten Sacharja ausgedrückt: „In jenen Tagen werden zehn Männer aus Völkern aller Sprachen einen Mann aus Juda an seinem Gewand fassen, ihn festhalten und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Gott ist mit euch“ (Sach 8,23).

134
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6. Vgl. Mt 7,28f: „Als Jesus diese Rede beendet hatte, war die Menge sehr betroffen von seiner Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der (göttliche) Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten.“

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7. Vgl. die Verschärfung des Tötungsverbots zum Beschimpfungsverbot (Mt 5,21f), des Ehebruchverbots zum Verbot, eine (verheiratete) Frau lüstern anzusehen (Mt 5,27f), des Meineidverbots zum Schwurverbot, des Gewaltbegrenzungsgebots (Aug um Aug, Zahn um Zahn) zum Gewaltverzichtgebot (Mt 5,38f). – Es ergibt sich in diesem Zusammenhang, dass Jesu Gesetz der Bergpredigt nicht als (unerfüllbare) Vorgabe für eine Leistungsmoral dient, sondern als Unterscheidungskriterium dafür, ob Menschen bzw. menschliche Gemeinschaften aus der Kraft des anbrechenden Gottesreichs leben oder nicht. Nur wenn das der Fall ist, ist die Erfüllung von Jesu radikalem Ethos möglich.

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8. Vgl. Jesu Gebote, dem Schlagenden die andere Backe hinzuhalten, demjenigen, der das Hemd fordert auch noch den Mantel zu überlassen und denjenigen, der dich zur Begleitung von einer Meile zwingen will, zwei Meilen zu begleiten (Mt 5,38-41).

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9. Vgl. Mt 3,2 und Mt 4,17.

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10. Das Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner Mt 18,23-35 beschreibt den schuldhaften Ausfall solchen Weitergebens als unvergebbare Sünde gegen das Gottesreich.

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11. Vgl. v.a. die Heilung vom Mann mit der verdorrten Hand Mk 3,1-6 (par Mt 12,9-14, Lk 6,6-11), weiters: Lk 13,10-17, Lk 14,1-6, Joh 5,1-14, Joh 9.

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12. Vgl. Lk 15,7: „Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren.“

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13. Vgl. M. Kuchenbrod , Die Funktion des Idealtypus nach Max Weber, im Internet: http://people.freenet.de/matkuch1/tuti deal.htm. Ausgehend von der hier beschriebenen kulturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs müsste ein theologischer Begriff des Idealtypus für die Theologie noch erschlossen werden. Dabei wäre vor allem zu berücksichtigen, dass verborgene Grundunterscheidungen durch Jesu provokatives Verhalten freigelegt werden. Solche Grundunterscheidungen sind vor allem im Johannesevangelium herausgearbeitet worden: Glaube – Unglaube, Leben – Tod, Licht – Finsternis.

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14. Im Wortsinn von Re-volution: Umwälzung.

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15. So könnte in einer Umkehrung von Lk 18,10-14 der Zöllner behaupten: „Gott ich danke dir, dass ich nicht so bin wie dieser Pharisäer da vorne“.

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16. In diesem Zusammenhang sind Jesu harte Gerichtsworte zu deuten. Biblische Theologie muss zeigen, dass sie der Treuepflicht gegenüber der Wahrheit der Gottesherrschaft entsprechen (im Sinne einer kritischen Solidarität) und nicht eine Aburteilung der Gegner im Sinne einer Kritik ohne Solidarität sind. R. Schwager hat Jesu Gerichtsworte in diesem Sinn interpretiert: vgl. ders ., Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre (IThS 29). Innsbruck-Wien 1990, 76-109.

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17. Mt 4,3f.

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18. Mt 4,4-6.

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19. Mt 4,8-10. In Lk 4,1-13 ist die Reihenfolge umgekehrt. Lukas rückt die Unterwerfung unter Satan in die Mitte der drei Versuchungen.

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20. Vgl. die Antwort auf die erste Versuchung: „Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“ (Mt 4,4) und die Antwort auf die dritte Versuchung: „Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen“ (Mt 4,10).

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21. ... die, wie sich bald zeigt, nicht nur und nicht einmal zuerst unter den gesellschaftlich gebrandmarkten Sündern zu finden sind.

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22. Immer wieder sucht Jesus das Gebet mit dem Vater, mit Vorliebe in Einsamkeit, in der Nacht und auf einem Berg: Vgl. Lk 5,16; 6,12; 9,18.28-29, 11,1, 22,41; Mt 14,23; Mk 1,35 u.v.a. – Zur radikalen Ausrichtung Jesu auf den Willen des Vaters vgl. Joh 4,34; 8,29; 5,30; 6,38; 14,31; 15,10.

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23. Vgl. Joh 6,15.

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24. „Du bist Petrus, und auf diesem Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen“ (Mt 16,18) – „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Du willst mich zu Fall bringen; denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“ (Mt 16,23). Im Gefolge dieser Jesusworte, deren erstes geschichtlich zur Legitimierung des päpstlichen Primats diente, steht die Kirche in einer Spannung zwischen Legitimierung und Delegitimierung. Das Unterscheidungskriterium ist die unbeirrte Ausrichtung auf Gottes Willen in der Nachfolge Christi.

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25. Vgl. die ersten Worte des erscheinenden Auferstandenen: „Friede sei mit euch“ Lk 24,36; Joh 20,19.21.26.

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26. Ich folge damit einer Strukturierung des Wirkens Christi in fünf Akten – 1. Gottesreichbotschaft, 2. Gericht, 3. Kreuz, 4. Auferstehung, 5. Geistsendung – wie sie mit Raymund Schwager in der Innsbrucker dramatischen Theologie vertreten wird. Vgl. dazu: R. Schwager , Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre (IThS 29). Innsbruck, Wien 1990 (im Internet: http://info.uibk.ac.at/c/c2/theol/itl/212.html. Für eine Theologie der Kirche führt der 4. und 5. Akt wieder zurück zum – nunmehr vertieften – Heilsangebot des 1. Aktes. Deshalb konzentriert sich dieser Aufsatz auf die Weiterführung der ersten drei Akte in die kirchliche Wirklichkeit (siehe folgendes Kapitel).

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27. Vgl. Mt 11,19 (par. Lk 7,34).

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28. Vgl. 2 Kor 5,21. – Gemäß der dramatischen Theologie R. Schwagers sind zwei weitere Grundgestalten der erscheinende Auferstandene und der den Geist aussendende Jesus Christus. Für eine Begründung von Erscheinungstypen der Kirche, die in einem einzelnen Aufsatz noch durchführbar ist, fasse ich diese beiden Grundgestalten mit der ersten Grundgestalt (Jesus als strahlendes Vorbild) zusammen. Vgl. R. Schwager, Jesus im Heilsdrama (s. Anm. 26).

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29. Solche Konzeptionen finden sich im Bild von Kirche als mystischer Leib Christi, besonders ausgeprägt in der Konzeption Johann Adam Möhlers , des berühmten Tübinger Theologen aus dem frühen 19. Jahrhundert. Er sprach von der Kirche als dem „fortlebenden Christus“ oder der „fortdauernden Inkarnation“ (vgl. M. Kehl , Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie. Würzburg 1992, 80f). In einer solchen tendenziellen Gleichsetzung kann die schuldhafte Defizienz von Kirche gegenüber Jesus Christus nicht mehr recht gesehen werden. Eine entsprechende Erweiterungsbedürftigkeit in der Konzeption von Kirche wird sich im Fortgang dieses Aufsatzes sofort zeigen.

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30. Ich verwende den Begriff Erscheinungstypen für idealtypische (s. Anm. 13) Grundformen, von deren jeweils unterschiedlicher Kombination her konkrete Erscheinungsgestalten von Kirche gedeutet werden können.

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31. Siehe Anm. 29.

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32. Denn Kirche repräsentiert nicht einfach das Sein und Wirken Christi gegenüber der Welt, sondern das Heilsdrama, das sich im dramatischen Austausch zwischen Jesus Christus und dem von ihm angerufenen Gottesvolk entwickelt. Damit ist Kirche zugleich Rufende und Gerufene, Warnende und Gewarnte, Verratene und Verratende. Es gibt kirchliche Vollzüge, in denen sich deutlicher das Sprechen, Handeln und Sein an Christi statt zeigt (besonders: Verbalpräsenz, Aktualpräsenz und Realpräsenz Christi im Sakrament der Eucharistie) und Vollzüge, in denen Kirche deutlicher als die von Christus angerufene und auch sich ihm verweigernde erscheint. Dass Kirche Vergegenwärtigung des christlichen Heilsdramas ist, bedeutet, dass diese beiden Seiten nicht getrennt voneinander vorkommen (z.B. in der Eucharistie, wo Kirche auch als sündige und der Erneuerung bedürftige aufscheint, z.B. im Bußteil; Eucharistie erscheint so als sakramentaler Vollzug der Transformation des Gottesvolkes im Sinne einer Umkehr zum anbrechenden Gottesreich). Diese Sichtweise von Kirche als Vergegenwärtigung des christlichen Heilsdramas kann zwei spannungsvolle Aspekte aus dem 2. Vatikanischen Konzil innerlich verbinden: Kirche als Sakrament (vgl. v.a. Lumen Gentium 1,1) und Kirche als stets der Erneuerung bedürftige (vgl. Lumen Gentium 2,8).

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Zur Existenzform von Kirche im Gegenüber zu Christus vgl. Lumen Gentium 2,9: „Gott hat die Versammlung derer, die zu Christus als dem Urheber des Heils und dem Ursprung der Einheit und des Friedens glaubend aufschauen, als seine Kirche zusammengerufen und gestiftet, damit sie in allen und jedem das sichtbare Sakrament dieser heilbringenden Einheit sei.“

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33. Vgl. dazu unten Seite 97.

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34. Das geschieht zentral im Sakrament der Eucharistie (vgl. auch oben Anm. 32). Dem hier vorgestellten Konzept entspricht eine eucharistische Ekklesiologie, die vor allem in den Ostkirchen entwickelt wurde. Vgl. dazu R. Schwager , Theologie der Kirche (Manuskript zur Vorlesung), im Internet: http://info.uibk.ac.at/c/c2/theol/itl/231-4.html#h57

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35. Vgl. Jesu Gleichnis von der Rückkehr der unreinen Geister (Mt 12,43-45, par. Lk 11,24-26).

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36. Zweites Vatikanum, Lumen Gentium 1,1.

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37. Paul Weß kritisiert an diesem Schlüsseltext der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums (Gaudium et Spes 1,1), dass hier eine undifferenzierte Solidarität der Kirche mit jeder Art von Freuden und Hoffnungen (auch z.B. von Kriminellen) ausgesagt würde (im Gespräch, vgl. auch Paul Weß, Wenn ich Jesus richtig verstanden habe ... Biblische Impulse zu einer Neuevangelisierung der Kirche. In: Im Glauben Mensch werden. Impulse für eine Pastoral, die zur Welt kommt. Festschrift für Hermann Stenger zum 80. Geburtstag. Hg. F. Weber " Th. Böhm " A. Findl-Ludescher " H. Findl. Münster 2000, 15-28, hier: Endnote Nr. 28 Seite 26f.). " Aber besteht für die Kirche die Möglichkeit, das mit der Welt Gemeinsame auf das Heile und Erlöste zu begrenzen? Gemäß der hier vertretenen heilsdramatischen Sicht sind auch die falschen und ambivalenten Formen von Freude, Hoffnung Trauer und Angst in der Kirche aufgehoben, indem sie dort transformiert werden.

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38. Siehe unten, Kapitel 4.2.

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39. Vgl. den Beitrag von Wandinger in diesem Band, 99-127.

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40. Die Problematik rigoristischer Abspaltungen durchzieht die gesamte Kirchengeschichte: Ein Beispiel aus der frühen Kirche: Im dritten Jahrhundert gründeten die Anhänger Novatians eine Gegenkirche, weil sie die Wiederaufnahme von „Lapsi“ – Menschen, die bei den Christenverfolgungen dem Martyrium entgingen, weil sie ihren Glauben verleugneten – durch die offizielle Kirche nicht ertrugen. Für die folgenden Jahrhunderte vgl. die Bewegungen des Montanismus und des Donatismus, im Mittelalter die Katharer und die Albigenser. Viele sektiererische Abspaltungen vom Christentum in der Neuzeit und Gegenwart hängen mit der Versuchung zur vollkommenen, reinen Kirche zusammen.

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41. Vgl. H. Czernin , Das Buch Groer. Eine Kirchenchronik. Klagenfurt, Wien 1998; P. P. Kaspar , Das Schweigen des Kardinals und das Begehren des Kirchenvolks, Kulturverlag 1995; A. Laun , Über die Schuldfrage reden? Anmerkungen zur Causa Groer. In: Kirche heute 4/1998,16-18, sowie im Internet: www.kirchen.net/bisc hof/laun/texte/groer-affaere-hp.doc

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42. „Der Kardinal hat Verleumdungen, Schmähung und Erniedrigung in beharrlichem Schweigen auf sich genommen, und vieles an seinem Schicksal erinnert an die Leidensgeschichte Christi.“ Ildefons Fux OSB, in „In memoriam Hans Hermann Kardinal Groer. Eine freundschaftliche Würdigung“, im Internet: http: //www.stjosef.at/bischof.k.krenn/index.htm?in_memoriam_kardinal_groer_ildefons_fux. htm~mainFrame.

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43. Weder eine moralistische Aburteilung – die dem Menschen Groer nicht gerecht würde und Kirche einmal mehr den Mechanismen der Ausgrenzung überantwortete – noch eine Weiterführung des Schweigens Groers durch ein Schweigen über Groer kann der hier durchscheinenden Problematik gerecht werden. Vielmehr sollte die Chance genützt werden, in einer differenzierten Studie über den „Fall Groer“ die Auswüchse von verkürzten Kirchenbildern und einseitigen Spiritualitäten herauszuarbeiten.

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44. Siehe Johannes Paul II. , Apostolisches Schreiben Familiaris Consortio (1981) Nr. 84. Da die sakramentale Sündenlossprechung automatisch zum Empfang der Eucharistie berechtigt, setzt ein Kommunionverbot für wiederverheiratete Geschiedene den Ausschluss vom Bußsakrament voraus.

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45. Vgl. Mk 10,2-12 (par Mt 19,3-9), Mt 5,27-32.

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46. Dabei zählt für das kirchliche Lehramt stärker der Umstand des regelmäßigen sexuellen Verkehrs (der als fortgesetzte schwere Sünde betrachtet wird) als der Umstand einer Wiederverheiratung, die ja nicht kirchlich, sondern nur zivilrechtlich möglich ist und als solche für die Kirche keine besondere Bedeutung hat.

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47. Vgl. W. Kirchschläger , Ehe und Ehescheidung im Neuen Testament. Überlegungen und Anfragen zur Praxis der Kirche, Wien 1987, besonders 89-105.

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48. In Mk 10,5 lehnt Jesus die Scheidung (im Sinne einer Entlassung der Frau durch den Mann aus der Ehe) auch unter der Bedingung ab, dass der Mann der Frau eine Scheidungsurkunde ausstellt: „Nur weil ihr so hartherzig seid, hat er [Mose] euch dieses Gebot gegeben.“ – Vgl. dazu Kirchschläger (s. vorh. Anm.) 98-100.

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49. Vgl. Kirchschläger , ebd. 98.

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50. Johannes Paul II. , Apostolisches Schreiben Familiaris Consortio (1981) Nr. 84; zitiert unter anderem in: Die Kongregation für die Glaubenslehre: Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über den Kommunionempfang von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen (1994) Nr. 4.

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51. Vgl. Kirchschläger (s. Anm. 47) 101.

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52. Vgl. oben Anm. 48 (zur Hartherzigkeit). In diesem Zusammenhang einer hartherzigen Seinsform muss auch das einschlägige Pauluswort verstanden werden, das oft moralistisch zitiert wird: „Wisst ihr denn nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber werden das Reich Gottes erben.“ (1 Kor 6,9f).

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53. Eine zeitlich begrenzte Bußzeit für wiederverheiratete Geschiedene mit anschließender voller Wiederzulassung zu den Sakramenten, selbst zum Sakrament der Ehe mit dem neuen Ehepartner, gehört zur alten Tradition der Orthodoxen Kirchen (vgl. G. Lachner , Praxis und Theologie der Orthodoxen Kirchen, in: Geschieden, wiederverheiratet, abgewiesen? Antworten der Theologie [QD 157]: Hg. Th. Schneider, Freiburg i.Br.-Basel-Wien: Herder 1995, 127-142). Dieser Umstand wird in der theologischen Diskussion um die wiederverheirateten Geschiedenen gegen ein Traditionsargument für die harte katholische Regelung vorgebracht.

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54. Dem Bedürfnis zur gemeinschaftlichen Aufarbeitung von Schuldverstrickungen wird am Psychomarkt intensiv und auf nicht unproblematische Weise entsprochen (vgl. z.B. den Boom bei Familienaufstellungen nach Bert Hellinger ). – Es gibt aber auch theologische Gründe für eine solche Reform: Solche teilöffentliche Bußformen wären insgesamt für eine Erneuerung der Bußpraxis von großer Bedeutung. Eine Reduzierung von Buße auf individuelle Beichte unterschätzt die Gemeinschaftsdimension von jeder Sünde und die damit aufgegebene Notwendigkeit einer Versöhnung auch mit der kirchlichen Gemeinschaft. Der implizite Bußcharakter anderer Sakramente (insbesondere der Eucharistie) sowie gemeinsame Bußandachten betonen zwar die gemeinschaftliche Dimension von Sünde, aber sie geben zu wenig Raum für das persönliche Engagement in Schuldbekenntnis und Entscheidung zur Umkehr. Es müssen neue Formen der Buße entwickelt werden, wo Menschen nach einem absolvierten Prozess der Auseinandersetzung mit ihrer Schuldverstrickung zu einer Wiederversöhnung mit Gott und der kirchlichen Gemeinschaft in deren Mitte treten. Auch Jesus ließ Kranke und Sünder in die Mitte treten um sie an Leib und Seele zu heilen. Vgl. etwa das Gleichnis von der blutflüssigen Frau (Lk 8,42-48).

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Theologische Gründe für die Notwendigkeit einer Erneuerung des Bußsakraments in Richtung auf öffentliche Bußverfahren gibt R. Meßner , Feiern der Umkehr und Versöhnung, in: Gottesdienst der Kirche: Handbuch der Liturgiewissenschaft, Teil 7,2, Regensburg 1992, 229-238.

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55. Vgl. die Anstrengungen zur Herausarbeitung eines Entscheidungschristentums im Zusammenhang mit anderen Sakramenten: bereits seit längerem liturgisch ausgearbeitet in Erwachsenenkatechumenat und Erwachsenentaufe, aber auch bei neueren Ansätzen zu einer in Eucharistiefeiern öffentlich vollzogenen Tauferneuerung, als Abschluss von Prozessen persönlicher Vertiefung der christlichen Grundentscheidung. Vgl. dazu H. Mühlen , Kirche wächst von innen. Weg zu einer glaubensgeschichtlich neuen Gestalt der Kirche. Paderborn 1996.

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56. Entsprechend der Polarisierung von Kirche in dieser Frage gibt es dazu zwei gegensätzlich ausgerichtete Dokumentations- und Diskussionsbände: für eine kirchliche Schwangerenkonfliktberatung mit Ausstellung eines Beratungsscheins: Der Schein des Anstoßes. Schwangerschaftskonfliktberatung nach dem Papstbrief. Fakten – Dokumente – Perspektiven: Hg. J. Reiter , Freiburg i.Br.-Basel-Wien 1999; – gegen Beteiligung der Kirche an der Schwangerenkonfliktberatung: R. Beckmann , Der Streit um den Beratungsschein. Würzburg 2000.

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57. Johannes Paul II. , Schreiben vom 11. Jänner 1998 an die katholischen Bischöfe Deutschlands, dokumentiert in: Schein des Anstoßes (vorige Anm.) 40: „Nach gründlicher Abwägung aller Argumente kann ich mich der Auffassung nicht entziehen, dass hier eine Zweideutigkeit besteht, welche die Klarheit und Entschiedenheit des Zeugnisses der Kirche und ihrer Beratungsstellen verdunkelt. Deshalb möchte ich Euch, liebe Brüder, eindringlich bitten, Wege zu finden, dass ein Schein solcher Art in den kirchlichen oder der Kirche zugeordneten Beratungsstellen nicht mehr ausgestellt wird. Ich ersuche Euch aber, dies auf jeden Fall so zu tun, dass die Kirche auf wirksame Weise in der Beratung der hilfesuchenden Frauen präsent bleibt."

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58. Ebd.

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59. „Von den 3145 ratsuchenden Frauen im Bistum Fulda gab 1997 keine einzige an, dass sie sich mit dem Gedanken an eine Abtreibung trage. Nur eine von 100 Frauen wurde 1997 im Bistum Fulda vom Arzt an eine kirchliche Beratungsstelle verwiesen, andernorts waren es 75, da der Arzt der Frau die Adresse von Stellen nennen muss, die den Beratungsnachweis im Sinne des Gesetzes ausstellen. ‚Freie‘ Beratungsstellen – das zeigt auch der internationale Vergleich mit den rein kirchlichen Beratungsstellen etwa in Österreich, Holland oder Italien – erreichen abtreibungsentschlossene Frauen nachweislich weit weniger. Im Unterschied dazu konnten die katholischen Beratungsstellen in Deutschland (außerhalb der Diözese Fulda) jedes Jahr bisher mindestens 5000 Kinder retten, deren Mütter ernsthaft zur Abtreibung entschlossen waren und die um des Scheines willen eine katholische Beratungsstelle aufgesucht haben.“ A. Lohner , Eine Dilemma-Situation, in: Anzeiger für die Seelsorge 109, Heft 8, August 2000, 368-371, sowie im Internet in: http://www.lebensfreunde.de/mei nung/lohnal1.htm.

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60. vgl. F. Kamphaus, Besuch bei den Schwangerenkonfliktberatungsstellen im Bistum Limburg, in: Der Schein des Anstoßes (s. Anm. 56) 166-180.

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61. Deshalb hatte sich Kamphaus auch massiv gegen die gesetzliche Abtreibungsregelung eingesetzt.

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62. F. Kamphaus , Retten, was zu retten ist, in: Süddeutschen Zeitung am 2. September 1998, im Internet: http://www.kath.de/ bistum/limburg/texte/kamphaus/SZ218.htm.

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63. Der Papst beauftragte den Weihbischof von Kamphaus' Diözese Limburg mit der umgehenden Durchsetzung des Beratungsscheinverbots. Vgl. den Brief von Papst Johannes Paul II . an Bischof Franz Kamphaus vom 7. März 2002, veröffentlicht in: Amtsblatt des Bistums Limburg vom 1. April 2002, 23, im Internet: www.kath.de/bistum /limburg/texte/amtsblatt/04amt02.pdf

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64. Vgl. den Brief des Papstes an die deutschen Bischöfe vom 11. Jänner 1998 (s. Anm. 57) sowie die beiden Briefe des Papstes an Bischof Kamphaus, abgedruckt im Amtsblatt des Bistums Limburg (s. vorige Anm.).

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65. Auch die Auslagerung der Beratungspraxis in kirchennahe Laienbewegungen (Donum Vitae) löst das Problem nicht, – weder auf der sachlichen Ebene (denn der Verein kann die umfassende und stark vernetzte Arbeit kirchlicher Beratungsstellen nicht einfach übernehmen), noch auf der Ebene der kirchlichen Auseinandersetzung (vgl. dazu die negative Stellungnahme des Apostolischen Nuntius in Deutschland, im Internet: http://www.kna.de/doku_aktuell /donum_vitae.html).

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